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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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fühlte sie sich unendlich müde. »Meinst du, wenn ich über Magie gebieten könnte, wäre mir nicht so etwas Schlimmes passiert?«
    Mit verschränkten Armen starrte die Schwester auf sie herab. »Man ist nicht unverwundbar, auch wenn man seine eigene Stärke kennt«, meinte Yvonne düster. »Von den Schamanen in der Mongolei habe ich … nun lass mich doch wenigstens ausreden, ja? Von den Schamanen habe ich gelesen, dass man nicht selten verflucht wird, wenn sich die Gabe regt. Dein Talent jagt unbegabten Menschen Angst ein und sie wollten verhindern, dass du deine Kräfte nutzen kannst.«
    Schweigend musterte Ravenna ihre Schwester. Angst hatte der Eindringling in ihrem Flur nicht gezeigt – ganz und gar nicht. Vielmehr hatte er wie ein Mann gewirkt, der sich jenseits menschlicher Gefühlswelten bewegte. Ein Hexenmeister ohne Gewissen, ein Voodoopriester, der sein Opfer genüsslich quälte. Wenn er hatte verhindern wollen, dass sie sich in ihrem Leben je wieder sicher fühlte, dann war es ihm gelungen. Und zwar gründlich.
    »Das hast du doch nicht nur aus Büchern«, meinte sie schließlich.
    »Nein«, gab Yvonne zu. »Natürlich nicht.« In ihrem Gesicht regte sich nichts, und sie ging auch nicht weiter auf Ravennas Frage ein. »Ich habe heute mit Mama telefoniert«, sagte sie stattdessen. »Sie meinte, dein Johnny langweilt sich im Stall noch zu Tode. Warum fährst du nicht raus aufs Land und machst einen Ausritt? Nur so zum Zeitvertreib. Und um der Sache mit diesen Zeitsprüngen auf den Grund zu gehen. Schließlich haben diese Phänomene auf dem Odilienberg begonnen. Dort hattest du das erste Erlebnis dieser Art und glaub mir, das ist kein Zufall. Es ist ein magischer Berg. Ein alter Hexentempel.«
    »Schamanen. Zeitsprünge. Magische Berge.« Ravenna lachte tonlos. »Nur weil ich von einem Ausritt nicht mehr heimfand? Das hört sich noch verrückter an als alles, was Doktor Corbeau mir vorgeschlagen hat. Wie kommst du bloß darauf?«
    »Wegen der uralten Bauten auf dem Gipfel.« Yvonne antwortete ohne eine Spur von Zögern. »Nicht das Kloster meine ich, sondern die Anlagen, die viel älter sind: das Druidengrab. Die Heidenmauer. Und die Beckensteine, aus denen die Zauberkundigen von einst die Zukunft lasen.«
    Unruhig rutschte Ravenna auf dem Wannenrand hin und her. Je länger sie über diese Bemerkung nachdachte, desto schneller kreiste das Blut in ihren Adern. Es stimmte – in der Nähe der Schalensteine auf dem Gipfel hatte sie zum ersten Mal jenen Gedächtnisverlust erlitten, der sie durch Raum und Zeit zu schleudern schien. Sie versuchte sich an das Ereignis an der Kathedrale zu erinnern, an Einzelheiten, die diesen Ort betrafen. War es möglich, dass ihre seltsamen Erlebnisse mit bestimmten Plätzen zusammenhingen, Plätzen, die – wie Yvonne zweifellos bestätigt hätte – aufgeladen waren mit magischer oder religiöser Energie? Doch was hatte all das mit dem Fluch in ihrer Küche zu tun?
    »Vielleicht hast du Recht«, murmelte sie. »Vielleicht sollte ich der Sache wirklich auf den Grund gehen. Dann haben du und Marcel wenigstens sturmfreie Bude.«
    Beunruhigt sah Yvonne ihr zu, wie sie Zahnpasta, Bürste und Shampoo zusammenraffte und in ein Täschchen packte. »Nun sei nicht gleich eingeschnappt«, meinte sie. »Ich bin sicher, dass es zwischen den merkwürdigen Ereignissen, die dir in letzter Zeit widerfahren, einen Zusammenhang gibt. Méme glaubte an solche Dinge. Unsere Großmutter glaubte an die Möglichkeit, dass sich der Himmel oder irgendein alter Felsen aufspalten und eine magische Welt hervorbringen können, eine Welt voller Geheimnisse und Wunder. Sie war geradezu besessen von Marienerscheinungen. Weißt du noch? Und auf den Odilienberg nahm sie uns jeden Sonntag mit.«
    »Mémé hatte auch eine andere Seite, die mit Magie und Zauberei überhaupt nicht einverstanden war«, widersprach Ravenna. »Du vergisst, wie fromm sie war. Einmal im Jahr eine Wallfahrt nach Lourdes, Santiago de Compostela oder nach Mariazell – du meine Güte. Dir ist doch wohl klar, was sie mit dir gemacht hätte, wenn sie herausgefunden hätte, dass du Steine auf Monsieur Wylers Auto herabfallen hast lassen.«
    Rasch verzog Yvonne den Mund und räusperte sich. »Das sind magische Plätze. Alte Kultorte, die von der Kirche vereinnahmt wurden. Mémé war eine Heidin und wusste es nicht.«
    Ravenna seufzte und ging ins Schlafzimmer, wo sie eines der Katzenjungen vom Bett scheuchte und eine Tasche aus dem Schrank

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