Die Hexen - Roman
Sieben schon zu lange.
Das Gelände senkte sich und die Pferde wateten durch einen Bach. Dann lag die Flussebene vor ihnen. Ravenna hielt den Atem an. Eine doppelte Lichterschlange wand sich durch das Tal. Obwohl es mitten in der Nacht war, säumten Hunderte von Menschen die Feldwege. Sie sangen und hielten Fackeln und Lampions in den Händen. Manche warfen duftende Kräuter auf den Weg, die von den Pferden zertrampelt wurden. Ein Ende der Lichterkette war nicht abzusehen. Wie ein Lindwurm zog sie sich durch die Nacht und reichte von Barr bis Sélestat und von dort bis an den Fuß des Hohen Belchen. Wie ein Schwarm bunter Glühwürmchen verteilten sich die Lampions über die Wiesen und Felder.
»Die Leute sind schlauer als wir und liegen im Bett?«, zog Mavelle sie gutmütig auf. »Niemand käme auf die Idee, sich den Umzug der Maikönigin entgehen zu lassen.«
Ravenna schluckte trocken. »Du meinst, sie sind meinetwegen hier?«
»Deinetwegen, wegen uns und wegen der Magie, die wir bringen. Einmal im Jahr fließt der Strom durch uns zu all den Menschen, die du hier siehst. Und deswegen sind sie gekommen.«
Langsam ritten sie auf die Menge zu. Kinder saßen auf den Schultern ihrer Väter und winkten, die Frauen schenkten den Vorüberziehenden Obst und Kuchen, der mit Likör getränkt war. Junge Männer und Frauen tanzten ausgelassen am Wegesrand. Die Burschen johlten und stießen auf zwei Fingern Pfiffe aus, die Ravenna minutenlang in den Ohren klingelten. Auf einem Heuwagen stand eine Gruppe Musikanten und spielte auf. Einer bearbeitete die Fidel, als wäre das Instrument ein Holzscheit, den er durchsägen wollte, der N ächste blies die Sackpfeife und ein Dritter bediente die Drehleier. Es klang schaurig schräg, aber die Leute klatschten in die Hände und drehten sich paarweise tanzend auf den Feldern, bis der Schlamm an ihren Holzschuhen klebte.
Der Lichterzug kam Ravenna wie ein endloses, buntes Volksfest vor. Überall wurden sie beklatscht und bejubelt. Mavelle hatte darauf bestanden, dass sie neben Lucian an der Spitze ritt. Zu ihrer Verwirrung entdeckte sie in der Menge immer wieder Leute, die zu der Schar gehört hatten, die den Konvent überfallen hatte. Was tun die hier?, fragte sie sich, während Willow sie in flottem Schritt an geröteten Gesichtern, baumelnden Lampions und ausgestreckten Händen vorbeitrug. Offenbar wollten nicht einmal ihre Feinde auf den magischen Segen verzichten.
Ein alter Bauer legte ihr die Hand aufs Knie und sie schrak zusammen. »Meine Tochter ist krank«, stieß er hervor. »Seit Yule isst sie nicht mehr und wird immer magerer. Wir fürchten, dass sie stirbt. Ich bitte Euch: Spendet ihr ein Licht.«
Was?, durchzuckte es Ravenna. Sie starrte den Mann an. Warum hatte Mavelle sie nicht auf die Aufgabe vorbereitet, die sie hier erwartete? Alle Augen ruhten auf ihr. Der alte Bauer hatte ihren Rock nicht losgelassen.
»Was soll ich tun?« Ravenna geriet in Panik. »Verdammt, was soll ich denn jetzt machen?«
Mavelle zuckte die Achseln. »Spende ihr ein Licht.«
Wie ein Wal, der zu lange unter Wasser gewesen war, stieß Ravenna den Atem aus. Ein Licht spenden. Also gut, dachte sie. Aber wie?
Es war Yvonne, die ihr zu Hilfe kam. Sie breitete die Hände über dem Kopf des Mannes aus, schloss die Augen und sagte weich: »Deine Tochter soll ein magisches Licht erhalten!«
Das war alles. Wenn Yvonne es machte, sah es aus, als flösse ein Netz aus Goldfäden über den Mann. Mit einem entrückten Gesichtsausdruck trat der alte Bauer in die Reihe zurück. »Das ist meine Schwester«, rief Ravenna den Umstehenden zu. »Meine Schwester.«
Durch das Beispiel mutig geworden, trugen nun auch andere Leute den Sieben ihre Sorgen und Nöte vor. Ravenna breitete ein Dutzend Mal die Hände aus und spendete ein Licht, das, wie sie wusste, nur ein winziger Teil des Stroms war. In ihrem Fall gab es jedoch keinen magischen Schauer und auch keinen Regen aus Goldfäden. Sie musste höchstens aufpassen, dass sie die Menschen nicht mit Regenwasser volltropfte, das ihr jedes Mal über die Kapuze rann, wenn sie sich vorbeugte.
Lucian blieb pflichtbewusst an ihrer Seite und sie sah, dass seine Hand stets wachsam in der Nähe des Schwertgriffs schwebte. Die Klinge steckte am gewohnten Platz unter dem Sattelblatt, doch die meisten Leute waren arglose Dorfbewohner und sie trugen Ravenna ihre Alltagsprobleme vor. Sie hörte von Liebhabern, die man zurückgewinnen wollte, von der Bitte um reiche Ernte
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