Die Hexen - Roman
aufgewachsen, hatten jahrelang in derselben Stadt gelebt und sich zuletzt sogar die Wohnung geteilt. Trotzdem waren Yvonnes Eifer und ihr Wissen in magischen Dingen etwas völlig Fremdes für Ravenna.
»Die meisten dieser Plätze waren alte Kultstätten«, erklärte Yvonne. »Orte, an denen du die Magie durch die Schuhsohlen spüren kannst. Der Odilienberg ist so ein Ort. Carnac, die Externsteine, Stonehenge, Mont St. Michel … es gibt Unmengen solcher Plätze. Früher … ich meine, jetzt ist der Glaube an Magie noch in ganz Europa verbreitet. Du stolperst ständig über Steinkreise, Dolmen oder heilige Bäume, an denen sich eine Verbindung aufnehmen lässt.«
»Zu den Toten.« Ravenna war noch immer nicht überzeugt von der Geschichte.
Yvonnes Augen leuchteten. »Zum magischen Strom, würde ich heute sagen«, erklärte sie. »Zur Quelle der Zauberkraft. Und nein – es ist nicht, wie du denkst. Wir feiern keine schwarzen Messen auf Friedhöfen. Wir sind Wiccas, keine Satanisten.«
»Was hattest du dann auf Beliars Boot zu suchen?« Ravenna fühlte sich hilflos. Was ihre Schwester ihr berichtete, war ihr vollkommen neu. Sie kam sich ausgeschlossen vor, als würde sie sich mit einer Fremden unterhalten.
»Ich habe dich gesucht«, sagte Yvonne leise. »Ich wäre überall hingegangen, nur um dich zu finden.«
Ravenna nagte an ihrer Unterlippe. Mavelle hörte ihnen aufmerksam zu, doch sie mischte sich nicht in das Gespräch der Schwestern ein.
»Mir war ziemlich schnell klar, dass bei deinem Verschwinden Magie im Spiel war«, fuhr Yvonne fort. »Die Art und Weise, wie es geschah, und die Erinnerungsfetzen, die nach deiner Rückkehr in dir auftauchten … All das legte nahe, dass du in das Feld eines dieser Tore geraten warst. Damals wusste ich noch nicht, dass es ein Zeittor war. Es steht alles hier drin.«
Unter dem Kleid zog sie ein Notizbuch hervor. Es war mit einem Lederstreifen gebunden, besaß ein Lesebändchen aus violetter Seide, und der Umschlag bestand aus Karton. Er war so geprägt, dass ein Muster von Goldbeschlägen und Edelsteinen nachgeahmt wurde.
»Was ist das?«
»Das Tagebuch einer Hexe, könnte man sagen«, seufzte Yvonne. »Hier schreibe ich auf, was ich auf meiner Suche nach den Geheimnissen der Magie erlebe.« Mit einem Warnlaut zog sie das Buch zurück, als Ravenna die Hand ausstreckte. »Es ist natürlich geheim.«
Ravenna schwitzte unter dem Wollmantel. Der Nieselregen benetzte ihre Haare und die Mähne der weißen Stute. Sie beugte sich vor, um dem Pferd das Klettern im Gelände zu erleichtern. »Ich hätte dir besser zuhören sollen«, gestand sie. Das Lächeln, das bei diesen Worten über Yvonnes Gesicht huschte, war echt und ungekünstelt. »Ich glaube, ich hätte eine Menge von dir lernen können.«
»Samhain bedeutet noch etwas anderes«, warf Mavelle ein. »In der Sprache der Hexen heißt es: Du kannst hinter die Dinge sehen. Oder darüber hinaus.«
Sie reichte Ravenna einen Gegenstand. Es war das Siegel von Samhain, ein Silberring wie die anderen Amulette auch. Schriftzeichen bedeckten den Rand und die Windrose war mit Gravuren und Edelsteinen geschmückt. In der Mitte des Siegels saß ein geschlossenes Auge.
»In der letzten Prüfung sollst du das Auge von Samhain dazu bringen, dass es sich öffnet«, erklärte Mavelle.
Ravenna lachte auf. »Wie soll das gehen?« Sie hielt einen Gegenstand aus massivem Silber in der Hand. Das Auge war nichts anderes als ein Relief aus Edelmetall.
»Das musst du selbst herausfinden«, meinte Mavelle. »Ich überlasse dir das Siegel, bis wir am Fuß des Hohen Belchen sind. Wenn du es bis dann nicht geschafft hast, musst du es mir zurückgeben.«
Ratlos drehte Ravenna den Schatz der Elfe in den Fingern. Das Silber war kalt und schwer und wurde vom Nieselregen mit winzigen Tröpfchen benetzt. Sie starrte das Silberauge durchdringend an und befahl ihm in der Sprache der Hexen, sich zu öffnen. Nichts geschah. Dann führte sie das Siegel dicht an das Mal an ihrer Stirn heran. Mavelles Ring wurde weder warm noch drehten sich die Flügel der Windrose. Selbst als Ravenna die Augen schloss und sich auf das Mal auf ihrer Stirn konzentrierte, bekam sie keine Vision. Sie erhielt nicht einmal den kleinsten Hinweis auf die Magie des siebten Siegels. Seufzend ließ sie den Ring in ihre Tasche gleiten. Offenbar gab ihr Mavelle etwas Zeit, um das Geheimnis von Samhain zu lüften. Einfach würde es nicht werden, das war ihr klar. Dafür kannte sie die
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