Die Hexen - Roman
überlebte, was danach geschah.
Die Tür öffnete sich nach innen. Als Ravenna sie aufstieß, fiel ein gleißender Lichtschein auf den Angreifer. Unwillkürlich hob der Mann die Hand und sie warf sich herum und trat nach ihm – irgendwohin, Hauptsache, sie traf.
Der Angreifer stieß einen Grunzlaut aus, ihre Attacke überraschte ihn. In dem grellen, weißen Licht sah Ravenna ihm endlich aus nächster Nähe ins Gesicht. Es war Lucian. Es war eine ältere, reifere Ausgabe des Ritters, in den sie sich verliebt hatte. Er sah gut aus mit den Fältchen in den Augenwinkeln und einem härteren Zug um den Mund. Ein dünner Bart betonte seine Gesichtszüge, er trug das Haar nun raspelkurz und seine Augen waren eiskalt. So viele Einzelheiten nahm Ravenna wahr, bis sie endlich begriff: Der Mann, der sie in Straßburg überfallen hatte und der sie nun gepackt hielt, war Velasco. Lucians Vater. Der Mörder der kleinen Maeve.
Sie kam nicht einmal dazu, zu schreien – so schnell hatte Velasco sie wieder an den Haaren gepackt. Schmerzhaft zerrte er ihr den Kopf in den Nacken und stieß sie vor sich her.
»Vorwärts!«
Sie stolperte beinahe über die Schwelle. Der Schlafsaal war leer, die Betten zerwühlt und verlassen. Die vernagelte Tür, die in den Anbau führte, war aufgebrochen worden, grelle Helligkeit strahlte aus diesem Durchgang hervor. Ravennas Augen begannen zu tränen, als sie auf das Licht zuging.
Hinter der Tür lag ein kreisrunder Raum. Ein Pentagramm war auf den Boden gezeichnet worden und die gleißende Helligkeit, die wie ein Suchscheinwerfer in den Nachthimmel strahlte, ging von den Linien aus. In der Mitte des Sterns befand sich Lucian – der echte Lucian. Soeben schob er die Arme unter Yvonne, die offenbar das Bewusstsein verloren hatte, und hob sie hoch.
»Achtung!«, schrie Ravenna. Lucian schrak auf. Als er seinen Vater erkannte, wich alles Blut aus seinem Gesicht. »Raus hier! Los, raus! Wird’s bald!«, brüllte er. Hastig ließ er Yvonne zu Boden gleiten. Im Aufspringen zog er sein Schwert.
Im Hintergrund bewegten sich schemenhafte Gestalten. Ravenna erkannte Vernon und Florence, die beiden anderen Ritter, die Lucian in das Haus begleitet hatten, und einige der Mädchen. Offenbar hatte Yvonne einige junge Hexen dazu überredet, ihr bei ihrem aberwitzigen Plan zur Hand zu gehen. Mit dem Schwertgriff hackte Garois das Holzkreuz aus dem Fensterrahmen und half Florence, auf das Dach des angrenzenden Stalls zu klettern. Im Hof war es jetzt gespenstisch still, nur der Hund winselte. Im Hinaussteigen drehte Vernon sich noch einmal um. »Lucian?«
»Verschwinde! Sofort! Das geht nur ihn und mich etwas an.« Lucians Schwertspitze zitterte, aber er griff nicht an. Er stand da und starrte seinen Vater an. Yvonne, die noch immer auf den Holzdielen lag, hustete und regte sich schwach.
»Was willst du jetzt tun, mein Junge?«, fragte Velasco leise. Die Messerschneide reichte von Ravennas Ohr bis zu der Grube über dem Schlüsselbein. Er brauchte die Klinge nur noch durchzuziehen und es war vorbei. »Sagte ich damals nicht, ich würde unter keinen Umständen zulassen, dass du eine Hexe erwählst? Nur über meine Leiche …«
»Oder über ihre. Ich erinnere mich«, fiel Lucian ihm ins Wort. Seine Stimme klang eisig. »Aber Ravenna ist keine richtige Hexe. Noch nicht. Und jetzt lass sie los. Dann tragen wir es aus, nur wir beide. Ein für alle Mal.«
Velasco schnalzte tadelnd mit der Zunge. Er fasste Ravenna unter dem Kinn und bog ihren Kopf so weit zurück, dass ihr Haar über seine Schulter fiel. Sie musste daran denken, dass Lucian jetzt ihre Kehle sah. Und die Messerklinge.
»Ein für alle Mal? Warum so endgültig, mein Sohn? Erkennst du nicht, welch magische Kraft in der Wiederholung liegt?« Velasco lachte auf. Von dem Stich in der Wange rann Ravenna Blut in den Ausschnitt, der Tropfen kitzelte sie am Hals. Sie wusste, dass Lucian und sie an denselben Augenblick dachten. An den Tag, als Maeve starb. Die Erinnerung an diesen Mord war für immer eingeschlossen in der schwarzen Perle, die Lucian am Schwertgurt trug.
Voller Verzweiflung federte der junge Ritter auf den Zehenspitzen, seine Fingerknöchel traten weiß hervor. Wenn er angriff, starb Ravenna. Und wenn er nichts tat, starb sie auch. Dann starben sie vermutlich beide, denn das war es, was Velasco wollte. Ravenna spürte seinen Herzschlag in ihrem Rücken und ein Gefühl von grausamer, kalter Macht. Die Aura des Hexers von
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