Die Hexen - Roman
Carcassonne.
Stöhnend richtete Yvonne sich auf, eine Hand am Hinterkopf. »Was … ist geschehen?«, murmelte sie. Dann entdeckte sie Velasco und ihre Augen weiteten sich.
»Leg das Schwert auf den Boden, mein Sohn«, befahl der Hexer. »Ganz langsam. Ich möchte nicht, dass wir uns missverstehen.«
Lucians Arm zuckte, doch er beherrschte sich. Behutsam ging er in die Knie und legte die Klinge auf die Dielen. Als er sich wieder aufrichtete, winkte Velasco. Widerstrebend schob Lucian die Waffe mit dem Fuß aus dem Pentagramm. »Jetzt das Wehrgehänge. Du da – steh auf und bring die Sachen zu mir.«
Taumelnd kam Yvonne auf die Füße. Über Velascos Hand an ihrem Kinn hinweg sah Ravenna ihren Ritter an. Er öffnete die Schnallen und ließ den Gurt auf den Boden fallen. Bei jeder Bewegung hielt er die Hände so, dass Velasco sie sehen konnte. In seinen Schläfen pochte das Blut.
»Nur damit Ihr es wisst, Ravenna: Ich habe Eure Schwester niemals begehrt«, sagte er und bohrte den Blick in ihren. »Weder jetzt noch im Haus Eurer Eltern oder sonst irgendwann wollte ich etwas von ihr. Nur Augenblicke, bevor das Pentagramm aktiviert wurde und die Magie das Dach wegsprengte, habe ich Yvonne dieses Schmuckstück weggenommen, damit endlich Schluss ist.« Er hob die linke Faust. Mémés Medaillon baumelte zwischen seinen Fingern.
Dieses Haus muss wirklich verflucht sein, dachte Ravenna. Tränen rannen ihr über die Schläfe. Velasco musste spüren, wie ihm die warme Flüssigkeit über die Finger und in den Kragen rann. Mit der Faust presste er ihr Zunge und Unterkiefer zusammen, so dass sie nicht antworten konnte.
Yvonne hob Lucians Schwert auf und brachte es samt Gurt, Lederscheide und den weiteren Ausrüstungsgegenständen des Ritters zu ihm. Mit einer Kopfbewegung deutete Velasco in eine Ecke. Gehorsam legte Yvonne Lucians Besitztümer dort ab. Zum Glück hat sie sofort begriffen, dass es hier um Leben und Tod geht, schoss es Ravenna durch den Kopf. Zorn und Erleichterung vermischten sich in ihr und sie konnte ihrer Schwester nicht in die Augen sehen.
»Jetzt geh zurück in das Pentagramm!«, befahl der Hexer. »Kniet nieder, alle beide, und verschränkt die Arme hinter dem Kopf.«
Langsam ließ Lucian sich auf den Dielen nieder und hob die Arme. Mordlust stand in seinen Augen und seine Schultern bebten. Ravenna hatte ihn schon viele Male knien sehen: vor seinem König, vor den Hexen und vor der Anwältin in dem grauen Kostüm. Noch nie war ihr diese Geste so wütend und aufsässig vorgekommen. Langsam schob sie die linke Hand unter den Mantel. Yvonne starrte Velasco an, gebannt von seiner Macht.
»Du dumme, ehrgeizige Kuh«, brachte Ravenna zwischen Velascos Fingern hervor, die ihr den Mund verschlossen. »Siehst du nicht, was er vorhat? Er will mit euch durch das Tor fliehen, das du aufgestoßen hast! Er nimmt Lucian und dich als Geiseln!«
»Still!«, zischte der Hexer ihr ins Ohr. »Und du, mein Sohn – bleib, wo du bist! Ich warne dich!«
Lucian schwankte leicht. Plötzlich brüllte Velasco auf, denn Ravenna presste ihm das Siegel des Sommers gegen den Oberschenkel. Mit der linken Hand hatte sie es aus der Tasche geholt, immer mit der Linken, wie die Hexen sie gelehrt hatten. Der Hexer taumelte, als hätte man ihn mit einem glühenden Eisen versengt. Ravenna spürte, wie ihr das Messer in den Hals schnitt, und warf sich nach hinten, gegen die Schulter ihres Gegners, um der Klinge zu entkommen. Ihr Schwung brachte Velasco zusätzlich aus dem Gleichgewicht und sie krachten gemeinsam gegen die Tür.
Alles ging so furchtbar schnell, dass sie sich fragte, woher sie die Zeit zum Denken nahm. Lucian war schon auf den Beinen und spurtete in ihre Richtung. Yvonne schrie auf, als Ravenna unter Velascos Arm hindurchrutschte und über den schmutzigen Boden zu der Klinge kroch, die in der Zimmerecke lag.
Der Hexer fluchte. Dann wandte er sich von seinem Opfer ab, zog den Arm durch und rammte seinem Sohn den Schwertgriff in den Bauch, so dass Lucian stöhnend vornüber sackte. Mit harter Hand stieß Velasco ihn zurück in den Fünfzackstern. Von Ravennas Hexendolch ließ er einen Tropfen Blut zu Boden fallen, genau auf die Linien des Pentagramms.
Das Licht wurde so grell, dass Ravenna geblendet wurde. Ein Sog entstand, und sie warf sich hastig nach vorn, um dasselbe Schicksal zu teilen wie die beiden Menschen, die ihr in den Welten diesseits und jenseits der Hexentore am wichtigsten waren. Da verglühte die
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