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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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wallte Dampf empor. Zwei Cousinen und eine von auswärts angeheuerte Küchenhilfe gingen der Mutter beim Vorbereiten des Mittagsmenüs zur Hand. In der ganzen Region war die Familie dafür bekannt, Weine und Speisen nur nach Originalrezepten zuzubereiten. Darin lag das Geheimnis der kleinen, erfolgreichen Wirtschaft am Fuß der Vogesen.
    »Ich habe geschlafen wie ein Baby«, rief Ravenna in die Durchreiche. Sie brach ein Stück vom frischen Baguette ab und bestrich es dick mit Butter und Marmelade. Ihre Cousine stellte eine Schale Milchkaffee vor sie hin.
    Ravenna hatte den Eltern nicht erzählt, weshalb sie mitten unter der Woche plötzlich genügend Freizeit hatte, um einen Ausritt zu unternehmen. Ebenso wenig wussten die Wirtsleute, was ihr in jener stürmischen, kalten Winternacht widerfahren war, als der Unbekannte plötzlich in ihrem Hausflur aufgetaucht war. Sie brachte es einfach nicht übers Herz, ihren Eltern die Wahrheit zu erzählen. Sie würden sich nur Sorgen machen und konnten ihr doch nicht helfen. Gilbert und Anna Doré waren vollauf mit dem Betrieb von Hof und Gasthaus beschäftigt. Vom Treiben ihrer Töchter in der nahen Stadt hatten sie keine Ahnung und sie fragten auch nicht – sie vertrauten darauf, dass die beiden Schwestern wussten, was sie taten. Das magische Talent, wenn es diese Gabe denn wirklich gibt, hat in unserer Familie eine Generation übersprungen, dachte Ravenna.
    »Dein Vater ist schon auf den Feldern«, fuhr die Mutter fort und reichte der Küchengehilfin einen Bund Frühlingszwiebeln. Schneidemesser und Deckel klapperten um die Wette und über dem Grillrost summte die Abzugshaube. »Er lässt fragen, ob du mit ihm die Zäune nachziehen willst.«
    »Ich kümmere mich erst mal um Johnny«, erwiderte Ravenna mit vollem Mund. »Helfen kann ich ihm auch heute Nachmittag noch. Die Zäune laufen ja nicht weg.«
    »Die Kälber aber schon«, rief ihr die Mutter lachend hinterher, aber da war sie schon aus der Tür. Sie wollte sich nicht aufhalten lassen, wollte den Ritt so schnell wie möglich hinter sich bringen und mit der Erkenntnis zurückkehren, dass der Odilienberg nur ein Gipfel war wie viele andere auch. Das hat nichts mit Flüchen oder irgendeiner Gabe zu tun – diesen Satz wiederholte sie in Gedanken immer wieder.
    Der gescheckte Tinkerwallach begrüßte sie mit einem aufgeregten Wiehern. Mit dem Vorderhuf donnerte Johnny gegen die untere Türhälfte, bis Ravenna ihm alle Karotten verfüttert hatte, die sie aus der Küche mitgenommen hatte. Anschließend führte sie das Pferd ins Freie. Unter ihren Bürstenstrichen begann das schwarzweiß gemusterte Fell des Tieres zu glänzen. Sie kämmte auch den dichten Fesselbehang und reinigte die Hufe, ehe sie dem Wallach den Sattel auflegte und die Gurte festzog.
    »Vorwärts!«, rief sie, sobald sie auf dem Pferderücken saß. Die lange Warterei auf den Ausritt hatte Johnny übermütig gemacht, und als sie ihm die Sporen gab, buckelte er genüsslich und galoppierte über die Wiesenwege, die von dem Gehöft in Richtung Berge führten.
    Sobald sie den Hof verließ, lag die Kammlinie der Vogesen vor ihr. Wie mächtige, dunkle Riesen ragten die Berge aus der Rheinebene auf. Auf den Feldern zog ein einsamer Traktor seine Bahnen, und als sie an den Koppeln des örtlichen Reiterhofs vorbeikam, begrüßte Johnny die anderen Pferde mit einem schrillen Wiehern. Kurz darauf stieg das Gelände an. Wald umgab sie und es duftete nach Tannennadeln und Rinde. Im fernen Dunst erblickte Ravenna die Umrisse der Stadt und entdeckte sogar den Nordturm der Kathedrale.
    Aber Straßburg und das Leben dort waren an diesem Morgen weit weg. Sogar Yvonnes Andeutungen und Mutmaßungen verloren an Bedeutung, denn der sonnige Tag enthielt nicht die geringste Bedrohung. Im Gegenteil – Ravenna trabte unter dichtem Laub dahin und genoss es, das Gesicht im Sonnenlicht zu baden und sich von den Bewegungen des Pferdes tragen zu lassen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie, wie das Gefühl ständiger Wachsamkeit in ihr nachließ. Dankbar gab sie dem Pferd die Zügel frei. Johnny warf den Kopf hoch und scheute spielerisch, als sie ihn antrieb und er zwischen den Kiefernstämmen bergauf trabte.
    Eine knappe Stunde später hatte sich das Gelände verändert. Aus dem Wald ragte eine breite, rötliche Felsnase, steil wie der Bug eines Schiffes. Dort oben lag das große Kloster mit der Kapelle, den Speisesälen für die vielen Pilger, einem Souvenirladen und einem

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