Die Hexen - Roman
holte. Wahllos stopfte sie Pullover, Unterwäsche und Socken hinein. Als sie Yvonne in der Tür stehen sah, hielt sie inne.
»Mémé hat uns ein Erbe hinterlassen, Raven. Sie hat uns zu dem gemacht, was wir sind: zwei Frauen, die tatsächlich nicht in diese Welt voller Flugzeuge, Autobahnen und Neonlichter passen! Weshalb bist du Steinmetzin geworden und hältst mittelalterliche Kathedralen instand? Warum wohl hüte ich einen Schatz an staubigen Büchern? Unsere Großmutter wollte, dass wir ein außergewöhnliches Leben führen. Durch versteckte Hinweise hat sie uns eine ganz bestimmte Verbindung zur Vergangenheit aufgezeigt, und ich bin der Meinung, wir sollten diesem Rätsel nachgehen.«
Energisch zog Ravenna den Reißverschluss der Tasche zu. »Ich glaube kaum, dass Méme in unserer Berufswahl irgendwelche Verbindungen zum Mittelalter sah. Oder zu sonst irgendeiner Zeit. Aber du hast vollkommen Recht: Ich brauche einen Tapetenwechsel. Frische Luft wird mir guttun. Und jetzt geh bitte wieder in die Küche und mach dir noch einen schönen Abend mit Michel.«
»Mit Mathis.«
»Wie auch immer.«
Kopfschüttelnd betrachtete Yvonne ihre Schwester. »Ich dachte immer, wir hätten mehr miteinander gemeinsam. Bist du nicht wenigstens ein klein bisschen neugierig auf den Zauber hinter den Dingen? Wer bewegt die Sterne über den Himmel? Wohin gehen wir, wenn wir träumen? Weißt du nicht mehr, wie wir uns als Kinder diese Fragen gestellt haben? Ich dachte immer, als Erwachsene würde ich die Antwort finden. Ich suche danach – noch immer.«
»Es tut mir leid.« Plötzlich fiel Ravenna das Sprechen schwer. Mit einem Ruck schlang sie den Tragegurt der Tasche über die Schulter und angelte den Autoschlüssel vom Nachttisch. Das junge Kätzchen krallte sich spielerisch in ihren Schnürsenkel. »Ich brauche einfach nur Zeit für mich. Grüß Mathéo von mir.«
»Mathis.«
»Dann eben Mathis.«
Grollend folgte Yvonne ihrer Schwester in den Flur. »Diesmal lohnt es sich wirklich, wenn du dir seinen Namen merkst. Ich glaube nämlich, er ist der Richtige.«
»Wenn es wahr ist, was du vorhin über Mémé gesagt hast, dann wäre vielleicht ein fahrender Minnesänger das Richtige für dich. Ein Drachentöter. Oder noch besser: ein Hofnarr.« Endlich war es Ravenna gelungen, ihrer Schwester ein versöhnliches Schmunzeln zu entlocken.
Vor der Haustür blieb sie stehen und ließ einen Blick durch ihre Wohnung schweifen. Alles an der Einrichtung war so, wie sie es gerne mochte: helle Farben und Materialien, die aussahen, als hätte man sie am Strand gefunden. Und wenn man genau hinsah, dann behielt Yvonne Recht: Dieser verwinkelten Dachkammer merkte man wirklich nicht an, in welchem Jahrhundert sie eigentlich bewohnt wurde.
Zuletzt umarmte Ravenna ihre Schwester. »Pass gut auf dich auf«, flüsterte sie Yvonne ins Ohr. »Versprich mir das! Dein neuer Freund kann bei uns wohnen bleiben, solange er will. Hauptsache, du bist hier oben nicht allein.«
Ein Ruf aus der Ferne
Das Elternhaus der Schwestern lag am Ortsrand von Ottrott, versteckt zwischen Weinbergen, Weiden und Kornfeldern. Die Fachwerkfassade hatte der Vater liebevoll restauriert und in einem kräftigen Blauton gestrichen. Geranien blühten auf allen Fensterbänken und ein golden angestrahltes Schild wies auf den Gasthof hin. Von ihrem Fenster aus konnte Ravenna es fast berühren. Ihr Zimmer ging zum Parkplatz hinaus. Sie roch den Duft von frisch gemähtem Gras und hörte das Zwitschern der Vögel.
Seufzend nahm sie die Armbanduhr vom Nachtkästchen, bevor sie das Zimmer verließ und die knarrende Treppe zum Erdgeschoss hinunterstieg. Eine unbestimmte Ahnung regte sich in ihr, eine Nervosität, die das Gespräch mit ihrer Schwester hinterlassen hatte. Sie ärgerte sich deswegen, denn sie hatte nicht vor, sich von Yvonne beeinflussen zu lassen. Doch sobald ihr Blick auf den schattigen Buckel des Odilienbergs fiel, wurde ihr ganz heiß. Ein alter Hexentempel, ein magischer Kultplatz … war sie deshalb so verstört gewesen, als sie das letzte Mal auf den Gipfel geritten war?
Angst vor einem Ausritt – so weit kommt es noch, schimpfte sie mit sich, als sie die Tür zur Gaststube aufstieß. Schon morgens roch es verführerisch nach geschmolzenem Käse, Röstzwiebeln und Bratkartoffeln.
»Gut geschlafen, mein Schatz?«, rief Ravennas Mutter aus der Küche, wo sie am offenen Feuer hantierte. Kupferkessel und Eisenpfannen standen auf den Flammen und aus den Töpfen
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