Die Hexen - Roman
Parkplatz für die Reisebusse. Von den Aussichtsterrassen aus hatte man einen herrlichen Blick auf die Flussebene, doch Ravenna lenkte das Pferd in die andere Richtung, fort von dem Felsvorsprung unter die dichten Bäume. Dort verlief die Heidenmauer. Sie stieß auf das Bauwerk, nachdem der Wallach die letzte Steigung erklommen hatte. Unter den Baumkronen türmten sich mit Moos überzogene Felsquader, die sorgfältig übereinandergeschichtet waren. Der Weg, auf dem sie ritt, schlängelte sich an der Mauer entlang. An manchen Stellen war das Bollwerk mehr als fünf Meter dick, Nischen und verwitterte Tore wechselten mit langgezogenen Wällen.
Mit klopfendem Herzen folgte Ravenna dem Verlauf der Mauer. Selbst ohne das geringste Zeichen von Magie wirkte der Bau unheimlich, ein düsterer, geheimnisumwitterter Bote aus einer anderen Zeit. Niemand wusste genau, weshalb der Wall errichtet worden war oder welchem Zweck er diente. Dass die Heidenmauer einen alten Kultplatz schützte, war nichts weiter als Spekulation.
Nach einer Weile zügelte sie das Pferd und starrte auf das verfallene Tor, das vor ihr lag. Ungefähr hier war es geschehen, hier hatte sie ihren ersten Gedächtnisverlust erlitten. Sie wusste noch, wie sie den Wallach zwischen den Mauerresten hindurchgelenkt hatte. Als sie die Augen schloss, überkam sie ein Gefühl von Nacht und Sturm, von einem Heulen in vom Wind gepeitschten Zweigen, aber das war auch schon alles. Ihre nächste Erinnerung war Kommissar Gress’ beachtliche Gestalt, die sich am Brunnen in Obernai über sie beugte. Dazwischen war nichts geschehen, und wenn Yvonne noch so sehr von Magie träumte – das konnte sie beschwören.
Seufzend lockerte Ravenna die Zügel. Lautlos sanken Johnnys Hufe in den Waldboden, als er durch das Tor schritt. Ravenna ließ dem Wallach seinen Willen, bis sie an eine Stelle kam, an der eine Gruppe großer, buckliger Felsen aufragte. Sie zog die Zügel an, schwang sich aus dem Sattel und zog das Pferd zu verwitterten Felsen. Es war eine Gruppe von Beckensteinen, wie man sie in der Nähe der Mauer hin und wieder fand. Wenn es einen Beweis für magische Mächte gab, die den Berg beherrschten, dann hier an dieser Stelle, wo vor Tausenden von Jahren womöglich wilde Tänze und blutige Opferungen stattgefunden hatten.
Gespannt beugte sich Ravenna vor. Die Schale in der Mitte des Felsens war vollkommen rund und man sah noch immer, dass der Stein vor langer Zeit mit Werkzeugen behauen worden war. Regenwasser hatte sich im Becken gesammelt und bildete einen stillen, dunkelgrünen Teich. Blaue Schatten lagen auf ihrem Gesicht, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. Die Farbe der Wolken im Hintergrund kehrte in ihrer Augenfarbe wieder und über ihrem Kopf sah sie Buchenblätter, Kieferzweige und ein Stück blauen Himmel. Eine Gestalt in einer roten Regenjacke – mehr war nicht zu erkennen. Keine Vision, keine Prophezeiung, nicht den geringsten Spuk gab es hier. Na bitte, dachte Ravenna. Wahrscheinlich musste man schon eine keltische Heilige sein, um die schlafende Macht des Odilienbergs zu wecken.
Seufzend zog sie den Reißverschluss bis zum Kinn. Ein Windstoß kräuselte die Wasseroberfläche, die Zweige über ihrem Kopf rauschten. Das Wetter wurde schlechter, das konnte sie auch ohne magische Eingebung vorhersagen.
Mein armes Kind, folge deinem Weg!
Überrascht blickte Ravenna auf, als sie von weither ein Echo hörte, einen Ruf aus der Ferne. Oder hatte sie sich getäuscht? Misstrauisch blickte sie sich um. Ihre Umgebung hatte sich nicht verändert: Die Bäume wuchsen in lockerer Ordnung, Heidelbeersträucher bedeckten den Boden. Zwischen den Stämmen schlängelte sich die alte Mauer.
Ihre Finger zitterten, als Ravenna nach den Zügeln griff und den Wallach zu sich heranzog. Geschickt schwang sie sich in den Sattel und wendete das Pferd. Der Wald wirkte dunkler, als sie nach dem Pfad suchte, der sie wieder in die Flussebene führen würde. Wolken waren vor die Sonne gezogen und der Wind blies in heftigen Böen. Von Westen her rollte leiser Donner.
Auch das noch, dachte Ravenna. Die Eltern werden sich Sorgen machen, wenn ich in ein Unwetter gerate. Um sicherzugehen, dass ihre Mutter sie nicht wegen irgendwelcher ausgebrochenen Kälber von ihrem Ausritt zurückrief, hatte sie das Mobiltelefon ausgeschaltet und in die Schublade des Nachtkästchens gelegt. Jetzt konnte sie zu Hause nicht einmal Bescheid geben, falls sie auf der Bergkuppe in einem Unterstand
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