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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Boden.
    Es war still. Sie hörte nur ihr eigenes, verzweifeltes Keuchen. Als sie sich schließlich umschaute, sah sie den Schacht, durch den sie gestürzt war, einige Meter über sich. Mattes, grünes Licht fiel auf die kegelförmige Schutthalde, die ihren Sturz abgefangen hatte. Sie fühlte keinen Drang, wieder auf die Halde hinaufzuklettern, ganz abgesehen davon, dass sie den Rand des Schachtes unmöglich erreichen konnte. Er lag zu hoch. An dieser Stelle gab es keinen Ausgang.
    Ravenna wandte sich ab. Vor ihr lag nur verschwommene Dunkelheit. Der Untergrund der Burg schien ausgehöhlt und von Gängen durchzogen wie ein Ameisenhaufen. Ravenna entschied sich, dort entlangzugehen, wo sie mit den Fingern an der Wand entlangstreifen konnte. Bald erkannte sie, dass dies auch der einzige Weg war: Die Felsen verengten sich nach einer Weile und gaben nur noch einen niedrigen Gang frei, in dem sie gebückt gehen musste.
    Der Weg krümmte sich, er bildete Schlaufen und Kurven, bis sie das Gefühl hatte, seit einer Ewigkeit unterwegs zu sein. Sie hielt mehrmals inne und schöpfte Atem, doch jedes Mal wurde das Durstgefühl in ihrer trockenen Kehle so stark, dass es sie zwang, weiterzukriechen. Sie hatte Lucians Gurtzeug längst abgestreift und schleifte es hinter sich her, die Schwertscheide scharrte über den Boden. Ein paarmal dachte sie ans Aufgeben, doch dann sagte sie sich, dass dieser Gang irgendwo enden musste, vielleicht im Kerker, wo sie Lucian finden und befreien würde.
    Endlich sah sie ein schwaches Licht vor sich. Als sie so nah war, dass es sie blendete, weitete sich der Gang zu einer Kammer. Taumelnd kam Ravenna auf die Füße. Das Licht, das sie gesehen hatte, fiel durch ein Loch in der Wand. Der Durchgang war vergittert. Wenn sie sich davor auf den Boden kauerte, sah sie einen breiten, sonnenbeschienenen Wiesenstreifen, der nach fünf oder sechs Schritten an einer Felswand endete. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war.
    Probehalber rüttelte sie an dem Gitter, doch es war fest im Felsen verankert. Sie fand weder einen Riegel noch Angeln oder sonst einen Hinweis darauf, ob es sich bewegen ließ. Widerstrebend sah sie sich in der Kammer um, in der ihre Reise offensichtlich zu Ende war. Ein Teil der Wände und die Decke bestanden aus Felsen, ein anderer Teil war Mauerwerk. In verschiedenen Höhen waren Eisenringe daran befestigt, deren Sinn und Zweck sie lieber nicht näher erkunden wollte. Sie lächelte schief. Zweifellos hatte sie Beliars Kerker gefunden. Und sie war die einzige Gefangene, denn von Lucian fehlte jede Spur.
    Der Mut verließ sie. Sie raffte den Hexenmantel um sich und kauerte sich auf den nackten Boden. Es war kalt, die Wände rochen nach Moder und Rost wie in einem richtigen Verlies. Gleichzeitig lag noch ein anderer Geruch in der Luft, ein scharfer Raubtiergestank, von dem ihr erneut übel wurde.
    Denk nach, Ravenna!, verlangte sie und hämmerte sich mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn. Denk nach oder die Zeit läuft dir davon! Die Lichtstrahlen, die schräg in die Grube vor dem Kerker einfielen, verrieten ihr, dass der Sonnenuntergang nur noch wenige Stunden entfernt war. Du musst hier raus oder es war alles umsonst!, ermahnte sie sich verzweifelt.
    Doch der einzige Ausweg war das Loch, durch das sie gekrochen war. Es führte sie zurück in den Tunnel, zum Schacht unter der Grotte – in eine Sackgasse. Wie schlau, dachte sie, während sie die Knie mit beiden Händen umklammerte und die Beine eng an den Körper zog. Falls ein unberufener Besucher die Grotte entdeckte, in der Beliar seinen magischen Schatz aufbewahrte, landete er genau hier: im Verlies auf dem Hœnkungsberg.
    Wenigstens besaß sie Lucians Schwert, sagte sie sich. Sie war also nicht vollkommen hilflos. Allerdings brauchte der Marquis nur abzuwarten, bis seine Gefangene verdurstete oder an der Verzweiflung starb – je nachdem, was zuerst die Oberhand gewann.
    Ravenna presste die Lippen zusammen. Sie war hier gelandet, weil sie vor Velasco geflohen war, weil sie nicht noch einmal dasselbe Elend durchmachen wollte wie an jenem Winterabend in ihrer Küche. Als sie an jene Nacht dachte, fing sie an zu zittern. Zuletzt behält Elinor also doch Recht, dachte sie. Sie würde nie vergessen, was damals geschehen war.
    Beliar musste den Hexer durch ein Tor in ihre Welt geholt haben. Gut möglich, dass Elinor ihm dabei geholfen hatte, denn die Marquise war schließlich eine der letzten ausgebildeten Tormagierinnen. Velasco war in ihre

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