Die Hexen - Roman
stöhnte sie auf. Der Altar war leer, die Grotte verlassen, als hätte das Gespräch der beiden Schwestern nie stattgefunden. Der Glasdeckel hatte eine kreisrunde Einfassung. Sie hob den Fuß, um über den Eisenring zu balancieren, doch da packte Velasco sie von hinten am Hexenmantel. Er riss sie zu sich heran, packte ihr Kinn wie in einem Schraubstock und zwang sie, ihm aus nächster Nähe ins Gesicht zu blicken.
»Du elende Verführerin!«, zischte er. »Du hast meinen Sohn verhext, so dass er nur noch an dich denken kann und nicht sieht, welche Möglichkeiten ich ihm biete. Nicht einmal die kleine Maeve hat ihm derart den Kopf verdreht.«
Er roch nach Rauch und Leder. Seine Augen glimmten tiefschwarz. Nichts darin glich dem Braunton, den Ravenna so sehr an Lucian liebte, weil er sie an Kaffeebohnen, Kastanien und Schokolade erinnerte. Nichts im Blick des Hexers verriet irgendeine Art von Gefühl.
Mit einem Finger zog Velasco den hochstehenden Kragen seines Wamses zur Seite und reckte das Kinn, damit Ravenna die Narbe sehen konnte, die quer über seinen Hals verlief. Es sah aus, als hätte er sich an einem Starkstromkabel erhängt. Da begriff sie: In Wirklichkeit war er der kopflose Reiter, das Gespenst aus Beliars Burg.
»In dem Augenblick, als Constantin mich hinrichten ließ, weihte ich mein Leben der schwarzen Kunst. Das hat mich gerettet«, stieß er hervor.
»Bedauerlicherweise musste ich mich zurückhalten, als wir beide uns in Straßburg zum ersten Mal begegneten. Beliar verlangte, dass ich dich nur erschrecken und ihm in die Arme treiben solle. Das ist sonst nicht meine Art: Zurückhaltung.«
»Kann ich mir denken«, murmelte Ravenna.
Eisern umklammerte Velasco ihren Arm, mit dem sie das Schwert gepackt hielt. Es schien ihn zu erregen, dass sie die Waffe nicht fallen ließ. »Warum?«, fragte sie. »Warum ich?«
»Du bist perfekt«, murmelte der Hexer. »Du warst von Anfang an als diejenige ausersehen, die sich zu unserer Runde gesellen sollte. Deine Schwester ist nur zweite Wahl, ihre Fähigkeiten sind nicht halb so stark ausgeprägt wie deine. Du, Lucian, Elinor und ich – unsere Gaben und Beliars Macht würden sich auf ideale Weise ergänzen. Schade, dass du so widerspenstig warst. Andererseits lag ein gewisser Reiz darin, mit dir zu spielen.«
Noch nie hatte Ravenna sich so vor einem Lächeln gefürchtet. Velasco war ein attraktiver Mann. Wenn man von der Narbe absah, die von seiner Hinrichtung stammte.
»Kann schon sein«, stieß sie hervor. »Aber jetzt ist das Spiel vorbei.«
Sie hatte gerade genug Spielraum, um ihrem Gegner das Schwert in den Fuß zu rammen. Ihr wurde beinahe übel, als sie spürte, wie die Klinge durch Leder, Gewebe und Knochen schnitt und dann auf den Steinboden stieß. Der Hexer schien eher überrascht als von Schmerzen überwältigt. Mit einem Ruck befreite Ravenna sich aus seinem Griff.
»Über eines solltest du dir im Klaren sein: Lucian wird seine Meinung niemals ändern. Wir waren zusammen am Maistein und das ist das Einzige, was zählt«, sagte Ravenna. Sie wich einen Schritt zurück und trat auf die Platte. Das Glas explodierte förmlich unter ihr.
Bestürzt griff Velasco nach ihr, er wollte sein Opfer nicht entkommen lassen, doch es war zu spät – Ravenna fiel rückwärts in den Schacht. Obwohl sie auf den Sturz gefasst war, schoss ihr der Schreck in die Glieder und ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie ruderte mit den Armen und ihr Schrei hallte von den Felswänden wider. Sie sah noch, wie Velascos wütendes Gesicht aus ihrem Blickfeld verschwand, bemerkte, wie das Licht in der Grotte immer kleiner wurde, und dann schlug sie mit dem Rücken auf einem Schutthaufen auf. Sie dachte nur daran, Lucians Schwert nicht fallen zu lassen, als der abschüssige Untergrund ins Rutschen kam und sie in einer Wolke aus Staub und Geröll bergab befördert wurde.
Der Sturz endete unsanft, als sie gegen eine Wand prallte. Ein Schauer aus Sand und Kieselsteinen hüllte sie ein und sie blieb stöhnend liegen. Erst als das Blut nicht mehr so stark in ihren Ohren rauschte, versuchte sie, die Zehen zu bewegen und vorsichtig den Hals zu drehen. Bei jeder Bewegung rann ihr kalter, mehliger Staub in den Kragen. Offenbar hatte sie sich nichts gebrochen, allerdings war wohl eine Rippe angeknackst, denn sie hatte Seitenstechen und ihr war schlecht. Ächzend stützte sie sich auf das Schwert, zog sich hoch und blieb vornübergebeugt stehen. Von einer Platzwunde tropfte Blut auf den
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