Die Hexen - Roman
Jägerin Ravenna an. »Bist du wirklich die, die du vorgibst zu sein? Eine einfache Reiterin – oder eine Spionin des Bösen?« Ihre Brauen waren zornig zusammengezogen und sie ließ ihre Hand zu dem silbernen Messer gleiten, das in ihrem Gürtel steckte.
Fieberhaft kramte Ravenna das Kleingeld aus der Hosentasche, das sie gerne fürs Telefonieren verwendet hätte, und warf es auf den Tisch. Die Münzen rollten in alle Richtungen. Ein Euro fiel der dunkelhaarigen Esmee in den Schoß. Sie nahm das Geldstück zwischen zwei Finger und hielt es gegen das Licht.
»O wie hübsch!«, rief sie. Ravenna wusste, was sie meinte: Auf der Rückseite zeigte das Geldstück eine irische Harfe. Deshalb hatte sie es behalten. Wenn sie sich recht erinnerte, stammte die Münze aus dem Jahr 2002. Auch Esmee entdeckte die Prägung und wurde blass. Behutsam legte sie das Geldstück zurück auf den Tisch. »Mehr als siebenhundert Jahre«, flüsterte sie. »Sie sagt die Wahrheit. Wir haben eine Hexe aus der Zukunft gerufen.«
Bestürzt blickten die Frauen einander an. »Und was jetzt?«, fragte Josce.
Mit den Handballen rieb Ravenna sich die Augen. Ihre Lider brannten vor Müdigkeit und ihre Glieder waren schwer wie Blei. »Jetzt würde ich mich gerne ausruhen«, murmelte sie. »Ich kann nicht mehr klar denken und so, wie ihr ausseht, geht es euch genauso. Können wir nicht morgen früh weiterberaten?«
Die Sieben tauschten einen Blick untereinander. Nach einem kurzen Wortwechsel seufzte die Elfe, erhob sich und führte Ravenna aus dem Saal. »Du hast Recht«, sagte sie, als sie den Flur betraten. »Wir könnten alle etwas Ruhe vertragen.« Wieder ging es durch verwinkelte Gänge und über lange Treppen bis zu einer Kammer im oberen Stock. Vor der Tür reichte die Elfe Ravenna die Kerze und ließ sie eintreten. »Chandler hält am Tor Wache, gemeinsam mit einigen von Constantins jungen Rittern«, sagte sie. »Du kannst also unbesorgt sein.«
Ravenna nickte nur aus Höflichkeit. Sei unbesorgt – nachdem sich die Zeit einmal wie ein Handschuh umgestülpt und sie irgendwo in der Vergangenheit verloren hatte. Ihre Gastgeberin blieb im Gang stehen und die moosgrünen Augen wanderten über Ravennas Gestalt, als wolle sie sich jede Einzelheit einprägen. Plötzlich streckte die Elfe die Hand aus, berührte Ravenna an der Stirn und ließ die Finger über Schläfe, Wangenknochen und Kinn gleiten.
»Über siebenhundert Jahre«, murmelte sie. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und verschwand im Gang.
Fröstelnd trat Ravenna in die Kammer und zog die Tür hinter sich zu. Es gab keinen Riegel und kein Schloss, und sie spürte, wie die Zugluft durch das Zimmer wehte. Die Einrichtung bestand aus einem Holztisch, einem Stuhl mit einer Sitzfläche, die aus Stroh geflochten war, einem altmodischen Waschstand und einer Truhe. An der gekalkten Wand über dem Bett hing ein Wandschmuck, der sie an eine Windrose erinnerte. Ein Kranz aus acht Strahlen, die in alle Himmelsrichtungen zeigten. Jeder Strahl war mit Zeichen beschriftet, die wie schnörkelige Runen aussahen. Eine ähnliche Schrift hatte Ravenna unten im Saal gesehen, auf den Gewändern der Hexen.
Nun nennst du sie auch schon so!, schimpfte sie sich im Stillen, während sie die Stiefel abstreifte und sich aufs Bett fallen ließ. Vor dem Fenster hörte sie die Linden rauschen. Die Fensteröffnung war schmal wie ein Handtuch und lag so hoch, dass sie nicht in den Innenhof schauen konnte. Doch sie wollte auch nicht hinausblicken und die Bäume betrachten, die einzigen Lebewesen, die die Zeitspanne bis zu ihrer Geburt überstehen würden. Die Absurdität dieses Gedankens ließ sie schaudern. Sie rollte sich zusammen und zog sich die Decke über den Kopf. Ich hätte Yvonnes Andeutungen als Warnung verstehen sollen, dachte sie. Dann hätte ich den Berg gemieden und all das wäre nie passiert.
Einige Atemzüge lang lag sie in der Dunkelheit unter dem Laken. Ihr Körper fühlte sich seltsam leicht an, als würde sie noch immer schweben, und vor ihren geschlossenen Lidern zuckten Ströme von lebhaften, bunten Hirngespinsten auf und ab. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, und zugleich das erste Bild ihres Traums war eine Frau in einem weiten, grauen Mantel. Sie stand auf einer Bergkuppe und reckte die Arme zum Himmel, an dem sich eine blasse Mondsichel zeigte. Der Wind spielte mit ihrem Umhang. Mit beiden Händen hob die Frau eine blasse Flamme über den Kopf, die in der zunehmenden Dunkelheit
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