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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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nur zweimal in ihrem Leben auf dem gefährlichen Stuhl Platz: bei ihrer Aufnahme in den Konvent und bei ihrer Einweihung als Magierin. Jede Unbefugte wird sofort von dem magischen Kraftstrom getötet. Und da fragst du, was dabei ist?«
    Ein magischer Kraftstrom … Ravenna konnte nur den Kopf schütteln. Sie hatte den ganzen Abend lang auf dem Stuhl gesessen und nichts gespürt. Von Avelines Gewürzwein war sie höchstens ein bisschen beschwipst gewesen.
    Das Mädchen mit der weißen Haube wollte sich nicht beruhigen. »Ich frage mich, durch welch finsteres Hexenwerk dir das gelungen ist. Aber das werde ich schon noch herausfinden. Du gehörst nicht hierher! Jede von uns wäre geeignet und bereit, Melisende beim Mittsommertanz zu vertreten. Wir haben jahrelange Übung in der magischen Praxis, wir kennen die Lieder und haben das geheime Wissen auswendig gelernt. Wozu muss man dann dich herbeirufen?«
    »Das weiß ich auch nicht«, sagte Ravenna, »aber ich werde euch beim Mittsommertanz ganz bestimmt nicht im Weg stehen. Zum Sommeranfang bin ich nämlich längst nicht mehr hier.«
    »Dann wirst du dir also keinen Geweihten Gefährten nehmen?« Die junge Frau mit den geflochtenen Haarschnecken bekam großen Augen. »Willst du tatsächlich die Schwertleite verpassen?«
    »Ich schwöre«, sagte Ravenna und wusste wirklich nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Ich schwöre, dass ich die Schwertleite verpassen, mir keinen Geweihten Gefährten nehmen und an Mittsommer nicht mehr hier sein werde. Noch heute kehre ich nämlich nach Hause zurück.«
    Ihre Worte schienen die Mädchen keineswegs zu besänftigen. Mürrisch drängten sie sich um den Eindringling in ihrer Mitte. »Pass lieber auf, was du sagst«, fauchte Lynette. »Denn der Schwur einer Hexe geht manchmal auf unvorhersehbare Weise in Erfüllung.«
    Aber ich bin keine Hexe, wollte Ravenna erwidern, doch die Worte erstarben ihr in der Kehle. Pass auf, was du sagst – so lautete die geheime Warnung, die sie und ihre Schwester einander immer wieder zugeflüstert hatten. Pass auf, was du sagst, oder dein Wunsch geht in Erfüllung. Dann öffnen sich Rosenknospen mitten im Winter, Kaninchen kommen aus ihrem Bau oder ein Marienkäfer krabbelt dir aus dem Mund.
    Wie kam es nur, dass Worte und der dazugehörige Wille solche Macht besaßen? Als Kindern war es den Schwestern wie ein unschuldiges Spiel erschienen, ein Zeitvertreib, mit dem sie die Abende im Garten zubrachten. Sie zauberten Dutzende von Glühwürmchen in die Büsche, indem sie einfach nur auf den Zweig zeigten, auf dem das Käferchen leuchten sollte. »Fyr fleogan«, flüsterten sie und ein grüner Punkt glühte zwischen den Blättern.
    Wie sehr waren die beiden Schwestern erschrocken, als sie merkten, dass Mémé plötzlich hinter ihnen stand! Und sie erschraken noch mehr, als sie merkten, dass ihre Großmutter beim Anblick der vielen Leuchtkäfer in Panik geriet!
    »Fort! Fort mit euch!«, schrie Mémé. Sie verscheuchte die Glühwürmchen mit beiden Händen und schüttelte die Zweige, bis es grüne Funken regnete. »Was habt ihr zwei da angestellt? Woher kennt ihr diese Worte?«
    Damals war Yvonne ein fünfjähriger Engel mit blonden Locken gewesen. Vor Schreck über den Wutausbruch der Großmutter heulte sie laut auf. »Ich weiß nicht! Ich weiß es nicht! Ich schaue die Dinge an und dann fällt mir einfach ein, was ich sagen muss! Stagga heorot!«
    Plötzlich hatte sie Mémé Hörner aufgesetzt, ein prachtvolles, zwölfendiges Geweih. Die alte Frau richtete sich kerzengerade auf, beschrieb mit der linken Hand einen Bogen um ihren Kopf und rief: »Esvanier!«
    Das Geweih verschwand. Da wussten die beiden Schwestern, dass auch Mémé zaubern konnte. Sie hatten es mit eigenen Augen gesehen. Die Großmutter packte sie jedoch am Arm und schleifte sie in die alte Waschküche. Dort zeigte sie den Kindern ein großes, braunes Stück Kernseife.
    »Wenn ihr diese Sprache noch einmal verwendet, wasche ich euch den Mund mit Seife aus. Habt ihr mich verstanden?« Nie zuvor hatten die Mädchen Mémé so zornig erlebt. Eingeschüchtert nickten sie. »Aber warum?«, fragte Ravenna. »Warum dürfen wir nicht spielen? Waren die Glühwürmchen denn nicht hübsch?«
    »Sehr hübsch sogar. Aber diese Sprache wird seit langer Zeit von keiner Menschenseele mehr gesprochen. Eigentlich hatte ich gehofft, dass sich in dieser Familie niemand mehr an diese Worte erinnert, bis sie schließlich ganz in Vergessenheit geraten und

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