Die Hexen - Roman
Tag im Hexenkonvent! Wie hatte sie das vergessen können? Was hatte Aveline ihr gestern mit auf den Weg gegeben? Wenn du der nächsten Magierin begegnest, gibt es kein Zurück mehr.
In diesem Augenblick versetzte Josce der Stute einen derben Schlag. Willow keilte aus und in wilder Jagd stürmten Pferde und Hunde den Steilhang hinunter. Regenschleier wehten Ravenna ins Gesicht. Weitab von jedem Weg rasten sie über Stock und Stein, setzten über Bäche und umgestürzte Baumstämme. Vor sich sah Ravenna nur die zuckende, weiße Mähne, hinter ihr dröhnte der Hufschlag des Verfolgers.
»Halte den Ring hoch über den Kopf!«, befahl Josce ihr. »Mit beiden Händen! Nun mach schon!«
Zugleich schwang sie das Bein über den Sattelknauf. Ein behänder Schwung – und sie saß verkehrt herum auf dem Sattel. Ihr langer Haarzopf tanzte wild auf und ab. Ravenna klammerte sich mit den Knien an den Sattel, während die Jägerin den Bogen spannte. An der Spitze des Pfeils glühte ein weißes Licht.
Es flog auf Ravenna zu, während sie das magische Siegel mit beiden Händen umklammerte und in die Höhe reckte, wie Josce ihr befohlen hatte. Geblendet schloss Ravenna die Augen, als der Pfeil mitten durch ihre ausgebreiteten Arme flog. Die Zacken der Windrose begannen sich zu drehen, genau wie es tags zuvor in der Kräuterküche geschehen war. Sie spürte, wie das Siegel in ihren Händen vibrierte. Als Ravenna die Augen wieder öffnete, sah sie, dass sie eine gleißende Funkenspur hinter sich herzog.
»Docgan – chacanier!«, befahl Josce schrill, und die Hundemeute machte kehrt. Aus den fröhlichen, kläffenden Tölen wurden zähnefletschende Bestien, die sich in die Lüfte erhoben. Wie ein Rudel Wölfe dem Leitwolf nachhetzte, folgten sie der gleißenden Bahn des Pfeils.
Der Verfolger fluchte und riss den Rappen zurück. Die Schuppenklinge fauchte durch die Luft, als der schwarze Ritter nach den Hunden schlug, die wie ein Schwarm über ihn herfielen.
Ravenna ließ erschöpft die Arme sinken. Das Aufjaulen eines getroffenen Tiers und das Gebrüll des zurückbleibenden Feindes rauschten ihr in den Ohren, Regen prasselte ihr ins Gesicht. Sie grub die Finger in die Mähne ihres Pferdes und achtete nur noch darauf, im Sattel zu bleiben und Josces Siegel nicht zu verlieren, während Willow den Hang hinabstürmte.
Du hast dich entschieden!, hatte Josce ihr bei der Begrüßung unter dem Tor des Konvents zugerufen. Jetzt begriff sie, wie die Worte gemeint waren. Der Eingang war in der vergangenen Nacht keineswegs durch Zufall oder wegen Terrells Schlampigkeit offen geblieben. Es war ein Test, dem die Hexen sie unterzogen hatten. Sie hätte dem Konvent den Rücken kehren können, ohne dass sie jemand daran hinderte. Wahrscheinlich hatten alle Bescheid gewusst und sie beobachtet, wie sie barfuß und im Nachthemd auf der Wiese vor dem Tor stand.
Doch jetzt war es zu spät. Sie war in der Welt der Hexen geblieben.
Burg Landsberg begrüßte sie im strömenden Regen. Ravenna war bis auf die Haut durchnässt, als sie die Festung am Fuß des Odilienbergs erreichten. Sie schlotterte und hatte kaum noch ein Gefühl in den Händen, als sie aus dem Sattel glitt. Außer grauen Mauern, einer Zugbrücke und einem dampfenden Misthaufen nahm sie kaum etwas wahr.
Sie hörte erst auf zu zittern, als sie in eine Wolldecke gehüllt am Kamin saß. Nevere drückte ihr einen Becher mit heißem Wein in die Hand und betupfte die Schnittwunde auf ihrer Wange mit Öl.
»Alles halb so wild«, versuchte die Frau mit dem Stern auf der Stirn sie zu trösten. »Davon bleibt höchstens eine kleine Narbe.« Ravenna biss die Zähne zusammen, um die Heilerin nicht vor Wut und Entsetzen anzuschreien. Der Überfall war Wirklichkeit, schreckliche, grauenvolle Wirklichkeit! Sie hatten mehrere Hunde und ein Pferd verloren. Und der Feind hatte einen der jungen Ritter erschlagen, einen Burschen von höchstens zwanzig Jahren. Marlons Leichnam lag draußen im Hof auf einem Karren, zugedeckt mit einem blutigen Leinentuch.
»Auf ihrem eigenen Grund und Boden werden die Jägerinnen zu Gejagten!«, fluchte Josce. »Was glaubt dieser Beliar eigentlich, wer er ist!« Erregt schritt sie am Kopfende der langen Tafel auf und ab. Ihre Hunde lagen unter dem Tisch. Manche hatten sich eingerollt und dösten, andere hechelten mit halbgeschlossenen Augen.
König Constantin betrachtete die Hexen nachdenklich. Er war einen Kopf kleiner als die meisten Ritter und so drahtig, dass das
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