Die Hexen - Roman
Bewegung.
»Constantin«, mahnte Mavelle an. »Ravenna hat dich etwas gefragt. Wer kommt noch zum Turnier?«
Mit einem Seufzer hängte der König das Eisen an den Haken neben dem Kamin. Er drehte sich zu den Anwesenden um. Seine Miene wirkte gequält.
»Beliar«, sagte er. »Der Marquis de Hœnkungsberg nimmt am Turnier teil.«
Ravenna war es, als hätte man sie mit einem Kübel Eiswasser übergossen. Der ärgste Feind der Hexen kam zum Turnier und beteiligte sich an dem Lanzenstechen. Und wenn er nun gewann? Wenn er als Sieger aus dem Kampf hervorging, wurde er dann ihr Gefährte? Entsetzt erinnerte sie sich an die schwarze Gestalt mit dem lodernden Helmbusch, der sie im Wald gegenübergestanden war.
»Nein«, hörte sie aus ihrem Mund kommen. »Das könnt ihr nicht zulassen.«
Constantins Lippen bildeten einen schmalen Strich. »Ich muss«, erwiderte er. »Der Stadtrat hat das Recht, beim Turnier einen eigenen Teilnehmer zu stellen. So will es das Gesetz.«
»Ich pfeif auf das Gesetz!«, schrie Ravenna. »Ihr seid total verrückt, wenn ihr denkt, dass ich da mitspiele.«
»Das ist kein Spiel«, meinte Josce mit rauer Stimme. »Constantin hat Recht: Diese Gesetze wurden einst mit der Zustimmung der Sieben erlassen. Wir sind daran gebunden.«
»Das ist mir egal!« Ravennas Stimme überschlug sich. »Soll sich die Stadt doch neue Gesetze geben! Ich bin jedenfalls nicht der Preis, den man bei diesem Turnier gewinnen kann!«
Josces Handrücken traf sie hart auf den Mund. Zorn verdunkelte die Augen der Jägerin. »Glaubst du vielleicht, wir haben keine Angst? Oder nimmst du an, die jungen Männer dort reiten mit Freude ins Turnier, obwohl sie wissen, dass sie an diesem Tag verletzt werden oder sterben könnten? Und Constantin – wie würde es ihm wohl gefallen, wenn sein ärgster Feind an seiner Ratstafel Platz nimmt und jeden seiner Beschlüsse vergiftet? Du hast die Lektion, die ich dir heute erteile, noch immer nicht begriffen: Die Liebe eines Gefährten muss man sich verdienen! Sie fällt einem nicht in den Schoß, sondern man erwirbt sie durch Mut, Vertrauen und Treue in der Not. Wir alle mussten darum kämpfen.«
Ihr habt ja keine Ahnung!, dachte Ravenna. Sie fühlte blinde Panik in sich aufsteigen. Wo war da der Unterschied zu dem Überfall, den sie in Straßburg erlebt hatte?
»Ihr hattet kein Recht, mich am Tor zu rufen!«, warf sie Josce und den anderen vor. »Niemand hat mich gefragt, ob ich eine Magierin werden will! Was gehen mich Zauberkräuter, magische Siegel oder fliegende Jagdhunde an? Ihr habt mich einfach aus meinem Leben herausgerissen und benutzt mich für eure Pläne. Aber wenn ihr es genau wissen wollt: In meiner Zeit gibt es längst keine Hexen mehr! Euer Konvent wurde in ein Hotel umgewandelt und diese Burg hier ist nur noch eine Ruine!«
Unheilvoll verklang das letzte Wort. Ravenna hatte nicht mit der Wirkung ihres Ausbruchs gerechnet: Aveline und Mavelle wurden bleich wie Wachs. Viviale zog den Schleier vors Gesicht und die Ritter murmelten erschrocken. Nur Lucian löste sich aus der Gruppe und trat vor, bis er an der Tafel des Königs stand.
»Wir lassen nicht zu, dass Beliar übermorgen siegt«, erklärte er. »Niemand hier wird erleben, wie der Marquis durch Eure Hand die Schwertleite empfängt. Das schwöre ich.« Sein Blick bohrte sich in ihren. Er wusste, dass sie die Zukunft kannte, und in seinen Augen stand ein Ausdruck, den sie noch nie gesehen hatte, bei niemandem: Ein eiserner Wille, gepaart mit dem Wissen, wozu ihre Gegner fähig waren. Es war dieses Wissen, dass ihn so überzeugend wirken ließ. Constanins Ritter hatte Dinge erlebt, die ein Mensch nie mehr vergaß.
»Lucian.« Die Stimme des Königs klang ungehalten, doch statt sich zurückzuziehen, stützte Lucian die Hand auf die Tafel und beugte sich vor. »Ihr habt mein Wort«, stieß er hervor. »Hört Ihr? Ihr habt mein Ehrenwort.«
Constantins Hand landete auf seiner Schulter. »Zurück auf deinen Platz, mein Junge, oder ich lasse dich hochkant aus dem Saal werfen«, drohte der König. »Dann kann dir Ramon in der Strafzelle berichten, wie die Beratung ausging.«
Während er zur Tür zurückkehrte, sah Lucian zu ihr zurück. Ravenna spürte ihren Pulsschlag bis in die Fingerspitzen. Plötzlich schien es ihr, als könnte sie tatsächlich klar und deutlich in die Zukunft sehen, und sie begriff genau, warum sie durch das Tor in diese Zeit gerutscht war.
Man schrieb das Jahr 1253. Noch hatte es keine
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