Die Hexen - Roman
Platz an der Ehrentafel des Königs erhalten hatten. Auch Lucian stand bei dieser Gruppe. Er wirkte angespannter und blasser als am Tag zuvor und ließ den König nicht aus den Augen.
Ravenna hätte sich am liebsten hinter der gemauerten Feuerstelle verkrochen. Sie fühlte sich schuldig, weil sie die verräterische, rote Regenjacke getragen hatte. Das Haar klebte ihr an der Stirn, ihre Kleider waren feucht und dreckig. Sie sah bestimmt schrecklich aus.
»Was war denn so dringlich, dass wir diesen Ritt unternehmen mussten?«, wollte Esmee wissen. Ihre Haut funkelte im Feuerschein.
Der König räusperte sich. »Wir müssen das Turnier verschieben.«
Erleichterung machte sich unter den Magierinnen breit. »Ah, das ist gut – sehr gut!« Josce rieb die klammen Hände über den Flammen. »Je mehr Zeit wir haben, Ravenna in unser Wissen einzuweihen, desto besser.«
Mit einem flauen Gefühl behielt Ravenna den König im Auge. Constantin wirkte alles andere als zufrieden. Grimmig nestelte er an dem Schwertgurt, den er um die Hüften trug.
»Eigentlich wollte ich damit sagen, dass wir das Lanzenstechen vorverlegen müssen. Wir verschieben es auf übermorgen«, verkündete er. »Die Schwertleite für Tades Nachfolger findet gleich im Anschluss statt.«
»Was?« Josce fuhr auf. »Das ist völlig unmöglich! Du hattest uns sieben Tage versprochen, damit wir Ravenna in die Geheimnisse der Magie einweisen können. Ich hatte noch nicht einmal Gelegenheit, mit ihr über die Wildhege zu sprechen, geschweige denn an der Falknerei vorbeizureiten.«
»Und sie weiß nicht das Geringste über Abwehrzauber oder den Pfad des Schicksals«, warf Esmee ein. »Oder über die Sehergabe«, ergänzte die Elfe und blickte Ravenna scharf an. »Sie spielt bloß leichtsinnig damit herum.«
»Trotzdem«, entschied Constantin. »Das Turnier wird auf übermorgen angesetzt. Einen Tag mehr Zeit – das ist alles, was ich Euch verschaffen kann. Heute Morgen erhielt ich einen Brief, in dem der Stadtrat verlangt, dass Tades Nachfolger ohne jede weitere Verzögerung bestimmt wird. Außerdem hat sich ein weiterer Ritter zur Teilnahme am Turnier gemeldet.«
»Und das können die so einfach?« Als Ravenna ihre eigene Stimme hörte, merkte sie, wie kläglich sie klang. König Constantin wandte sich ihr zu. »Ja, Ravenna, das können sie. Vor vielen Jahren wurden der Konvent auf dem Berg und diese Burg auf Wunsch der Menschen errichtet, die am Fluss und in den angrenzenden Tälern leben. Ein Gesetz aus dieser Zeit besagt, dass Stadt und Umland festsetzen können, wann zu ihrem Schutz Ritter eingesetzt werden. Wir zögern diese Wahl nun schon mehr als zwei Mondwechsel hinaus. Länger können wir nicht warten.«
Verwirrt erhob Ravenna sich. Die Wolldecke ließ sie neben der Herdstelle liegen. »Aber warum dauert es denn so lange, einen Nachfolger für Tade zu bestimmen?«
Josce fasste sie an der Hand. »Weil du seine Gefährtin bist«, erklärte sie. »Ein Sieger ohne eine Hexe als Gegenüber hat zwar alle Gegner im Turnier bezwungen, aber er bleibt doch nur ein einfacher Ritter. Erst wenn eine Magierin sein Schwert weiht, wird er in den Orden aufgenommen.«
»Aber warum ich?«
Josce lächelte. »Mavelles Vision hat uns gezeigt, dass eine Nachfahrin von Melisende auf den Hexenberg kommen wird. Du bist die rechtmäßige Erbin ihrer Gabe. Ohne dich – und ohne Melisendes Siegel – wird der magische Strom an Mittsommer versiegen. Deshalb war es gut, dass du unserem Ruf gefolgt bist.«
Aber das ist doch Unsinn, wollte Ravenna sagen. Siebenhundert Jahre – wie kann ich da ihre Erbin sein? Ihr Blick wanderte wieder zur Tür. Lucian hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und betrachtete seine Stiefelspitzen.
Sanft fasste Josce Ravenna unter dem Kinn und drehte ihren Kopf herum, bis sie die Jägerin wieder ansah. Ein fröhliches Funkeln zeigte sich in Josces Augen. »Erst nachdem er gewonnen hat, wird er dein Ritter!«, erinnerte sie Ravenna leise.
Und wenn er nicht siegt?, ging es Ravenna durch den Kopf. Würde sie dann einen der anderen Männer wählen müssen? So wie Aveline ihren alten Freund Terrell? Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Wer hat sich noch am Turnier angemeldet?«, fragte sie den König. »Vorhin war die Rede von einem weiteren Teilnehmer. Wer kämpft mit Lucian und den anderen Rittern um den Sieg?«
Constantin ging zum Kamin. Mit dem Schürhaken stieß er einen angekohlten Scheit tiefer in die Glut. Es war eine wütende
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