Die Hexen - Roman
Kühen, von einer Linde, die vom Blitz gespalten wurde, und von einer Krankheit, die die Bevölkerung von Straßburg plagt. Das kann nur eines bedeuten: Eine unter uns wirkt schwarze Magie.«
Keines der Mädchen regte sich. Alle, auch die kleinsten Schülerinnen, standen in Reih und Glied wie Strohpuppen auf einem abgeernteten Feld. Ihre Umrisse verschmolzen zunehmend mit der Dunkelheit.
»Die Schuldige wird keinesfalls straflos davonkommen«, bekräftige Viviale noch einmal. »Das Wissen, das wir euch auf diesem Berg vermitteln, und jede Gabe, die ihr selbst mitbringt, können sowohl zum Guten wie zum Schlechten eingesetzt werden – das wisst ihr genau. Und ihr wisst auch, dass die Verantwortung für euer magisches Handeln ganz bei euch liegt. Aber mit dem Eintritt in den Konvent habt ihr eine Wahl getroffen. Ihr habt euch verpflichtet, unsere Gesetze zu befolgen. Und diese Gesetze besagen: Nichts, weder Tier noch Pflanze und erst recht kein Mensch, darf durch euer Tun verletzt werden! Die Mauer, die unseren Konvent umgibt, wurde nicht errichtet, um eine Schwarzmagierin zu schützen.«
Ravennas Herz pochte hart. Ohne es zu merken, hatte sie den Wahlspruch der Sieben lautlos mitgesprochen. Wie oft hatte sie diese Worte von ihrer Schwester gehört? Und obwohl sie mit Sicherheit wusste, dass sie unschuldig war, spürte sie Furcht in sich aufsteigen. Der Zorn der Hexen war schrecklich.
»Wer auch immer sich an Flüchen, Wetterzauber und Teufelsbeschwörungen versucht hat, wird es heute Abend bereuen!«, drohte die Magierin. »Aufgrund ihrer Taten wird die Reichsstadt Straßburg ein hartes Urteil über unsere Schwester Melisende verhängen. Ihre Schuld gilt nun als erwiesen. Niemand wird uns mehr Glauben schenken, wenn wir beteuern, dass sie mit den Vorfällen nichts zu tun hat – wie auch, da die Schadensmagie auf dem Odilienberg gewirkt wurde! Deshalb werdet ihr euch alle einer Prüfung unterziehen.«
Wieder erhoben sie ihre Dolche in einer gemeinsamen Bewegung. Diesmal trafen die Klingen sich waagrecht über dem Becken und bildeten einen scharfkantigen Stern.
»Vatnar goða Morrigan, scavianier ða treowð!«
Mehr als zweihundert Mädchenstimmen sprachen die Worte nach. Kaum waren ihre Stimmen verklungen, als das Wasser im Becken gespenstisch zu leuchten begann. Der Lichtschein hüllte die Hexen ein, fahler als das letzte Glühen der Abenddämmerung im Westen.
»Beginnen wir mit der Wahrheitsfindung!«, rief Viviale. Ihre nächsten Worte waren wie ein Schock. »Den Anfang macht Ravenna.«
»Was – ich?« Die Gerufene schien ihren Ohren nicht zu trauen. Aber bei mir könnt ihr euch doch sicher sein!, dachte sie entsetzt. Ich stamme doch gar nicht von hier! Und ich habe keine Ahnung von Magie, egal ob schwarz oder weiß!
Die Runde am Becken erwartete sie schweigend. Das Heer der Mädchen stand stumm im Hof. Ravenna begriff, dass sie die ganze Nacht warten würden. Zögernd löste sie sich von dem Baumstamm, an dem sie lehnte.
Auch von nahem erkannte sie die Gesichter der Magierinnen kaum wieder, sie wirkten durchsichtig und dunkel wie Rauchglas.
»Zieh das Obergewand aus«, riet ihr Esmee flüsternd. »Die Schuhe und das Amulett auch.«
Schweigend gehorchte Ravenna und legte das Triskel in die ausgestreckte Hand. In dem weißen Unterkleid aus Leinen kam sie sich wie eine arme Sünderin vor. So musste es gewesen sein, wenn man am Pranger stand.
»Hab keine Angst«, fuhr Esmee ebenso leise fort. Nur sie und die Hexen am Brunnen hörten die Worte. »Wenn du keine Schwarzmagierin bist, wird dir nichts geschehen. Siehst du die drei Stufen dort?« Ravenna nickte. Im kalten Abendwind schlang sie die Arme um sich, als sie die Treppe betrat.
»Steig in das Becken!«, befahl Viviale.
Das meinen die wirklich ernst, dachte Ravenna, während sie auf dem Rand des Beckens balancierte. Sie konnte nicht erkennen, woher das Licht im Wasser kam. Auch auf der Innenseite des Beckens gab es Stufen und die Oberfläche kräuselte sich im Wind.
Na dann, dachte sie. Zuerst tauchte sie ihre Zehen und Knöchel ein, dann die Knie. Das Wasser war kalt und der weiße Unterrock bauschte sich um ihre Hüften.
Das war’s dann?, dachte sie, als sie im Becken stand. Als weiter nichts geschah, strebte sie auf die Treppe auf der anderen Seite zu.
Plötzlich spürte sie die Hände der Magierinnen auf ihrem Kopf. Sie hatte kaum noch Zeit, Luft zu holen, ehe die Sieben sie untertauchten. Sie wehrte sich unter Wasser, zappelte und schrie,
Weitere Kostenlose Bücher