Die Hexen - Roman
während sie versuchte, die Hände abzuschütteln. Aber die Hexen hielten sie erbarmungslos fest. Als die Luft knapp wurde, riss Ravenna die Augen auf.
Sie wurde von allen Seiten angestarrt! Riesige, glotzende Augen aus Mosaiksteinen befanden sich auf den Innenwänden des Beckens, aus den hohlen Pupillen fielen Lichtstrahlen auf sie. Täuschte sie das aufgewühlte Wasser oder verfolgten die Augen jede ihrer Bewegungen?
Sie schrie mit der letzten Luft in ihren Lungen, aber das Wasser dämpfte den Hilferuf. Sie verschluckte sich und fing an zu husten. Dann verschwand der Druck auf Kopf und Schultern so unerwartet, wie er gekommen war.
Ausgestreckte Hände halfen ihr aus dem Becken. Zum zweiten Mal an diesem Tag war sie nass bis auf die Haut, und obwohl sie keuchte und würgte, strahlte Aveline sie an. Die Zähne leuchteten aus dem schwarzen Gesicht.
»Sehr gut – sehr gut, Ravenna! Du hast dich wirklich noch nie mit Schadensmagie befasst, nicht einmal in Gedanken. Jede von uns muss in den Augenbrunnen steigen, ehe sie tiefer in das Geheimnis der Magie dringt. Jetzt kannst du deinen Platz in unserer Runde einnehmen!«
Aveline zerrte ihr das klatschnasse Kleid über den Kopf. Zwei oder drei Herzschläge lang stand Ravenna splitternackt vor dem Mond. Dann halfen ihr die Sieben, warme und trockene Gewänder anzuziehen. Zuletzt hakte Aveline den Verschluss ihrer Halskette ein. »Die ist hübsch«, flüsterte sie und berührte die dreifache Spirale mit dem Finger. »Und so was gibt es in deiner Zeit, obwohl keine Hexen mehr da sind?«
Währenddessen tauchten Viviale und die anderen Frauen das nächste Mädchen unter. In einer langen Schlange warteten die Anwärterinnen vor dem Brunnen.
»Du hast auch schon mal ein solches Bad genommen?«, fragte Ravenna leise Aveline, während sie beobachtete, wie die kupferroten Locken des Mädchens auf der Oberfläche schwammen. Mit einem japsenden Atemzug tauchte die Kleine wieder auf. Die Behandlung, die man im Hexenzirkel über sich ergehen lassen musste, gefiel ihr immer weniger, und sie fragte sich, was sie wohl noch alles erwartete.
Aveline lachte. »Natürlich habe ich im Augenbecken gebadet – das haben wir alle! In meinem Fall war allerdings Hochsommer. Und es gab keinen Verdacht auf Hexerei«, setzte sie düster hinzu.
»Was geschieht eigentlich mit einer Magierin, die tatsächlich …«, fing Ravenna an, aber Aveline bedeutete ihr, still zu sein und das Ritual der Wahrheitsfindung nicht länger zu stören.
Schweigend nahm sie ihren Platz an der Südkante des Beckens ein. Ein Mädchen nach dem anderen tauchte ins Wasser und wurde den Blicken der leuchtenden Augen ausgesetzt. Jedes Mal lief Ravenna ein Schauer über den Rücken. Sie war ganz sicher: Die magischen Augen hatten sie angestarrt. Die meisten Schülerinnen wussten, was im Brunnen geschah und wehrten sich nicht, doch es kamen alle schluchzend und schlotternd wieder aus dem Wasser. Esmee und Aveline hüllten sie in weiche Tücher, sprachen einige tröstende Worte und trugen den Mädchen auf, sofort auf ihre Kammern zu gehen und sich umzuziehen. Für sie war der Abend vorbei.
Florence stand auf der Treppe. Die hochgedrehten Haare der jungen Frau waren gelöst, die braunen Zöpfe fielen ihr über das Gewand. An ihrem Gesicht erkannte Ravenna, dass sie Angst hatte.
Gespannt beobachtete sie, wie das Mädchen ins Becken tauchte. Täuschte sie sich oder schien Florence länger unten zu bleiben als die anderen? Fiel es ihr etwa schwer, wieder an die Oberfläche zu kommen? Doch nein, die Spiegelungen auf der unruhigen Wasseroberfläche hatten sie getäuscht. Zwei oder drei Atemzüge später tauchte Florence wieder auf. Das weiße Kleid klebte ihr am Körper. Weinend stieg sie aus dem Becken.
»Ich bin unschuldig!«, stieß sie hervor. »Seht ihr? Ich habe nichts Böses getan!« Ihre Gestalt wurde vom Fackelschein beleuchtet. Die Mondsichel stand noch immer gestochen scharf über den Bergen.
Sie ist erleichtert, dachte Ravenna, während Florence das Leintuch über die nassen Schultern zog und im Laufschritt zum Wohngebäude rannte. Das Mädchen duckte sich schuldbewusst, als sei das Bad im Augenbrunnen gerade noch einmal gutgegangen.
Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte Ravenna.
»Die N ächste!«, befahl Viviale. Gelassen betrat Lynette die Stufen. Die Bänder ihres Leinenkleid es waren gelöst. Gold glänzte unter dem Stoff. Mit einer entschiedenen Handbewegung hielt Viviale die junge Frau auf. »Die
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