Die Hexen - Roman
zurück und fingen an zu kreischen. Im Handumdrehen löste sich die festgefügte Ordnung auf, die Schülerinnen rannten durch den Innenhof wie verirrte Vögel, die unter ein Netz geraten waren.
Für den Rest ihres Lebens sollte Ravenna den Anblick von Lynettes Gesicht nicht mehr vergessen, als sich das Mädchen zu den Sieben umdrehte. Befremden zeichnete sich in ihren Zügen ab, und aus ihren Augen rann schwarzes Blut.
Fast wäre Ravenna vom Beckenrand gesprungen und ebenso panisch wie die anderen Schülerinnen durch den Hof gerannt. Aveline packte sie in letzter Sekunde am Handgelenk und zwang sie, dazubleiben. Währenddessen hob Esmee einen Silberspiegel, den sie am Gürtel trug, und hielt ihn dem Mädchen vors Gesicht. Lynettes Überraschung verwandelte sich in Entsetzen. Aber je mehr sie schluchzte und stöhnte, desto mehr klebrige Tränen flossen ihr aus den Augen, und als sie versuchte, das Blut abzuwischen, verschmierte sie es mit der Hand auf dem ganzen Gesicht.
»Siehst du nun ein, dass man die Wahrheit niemals verbergen kann?«, fragte Viviale ruhig. »Das Blut auf deinem Gesicht stammt von deinen Opfern. Du hast schwarze Magie gewirkt und das Leben von Menschen, Tieren und der alten Ulme am Löwentor zerstört. Außerdem hast du den Zirkel der Sieben verraten. Deine Missetaten werfen nun ihren langen Schatten auf den Konvent.«
»Aber ich habe doch nur … ich wollte doch … mein Schwager hat mir befohlen, die Künste der Hexen zu erlernen, damit sein Königreich das mächtigste und siegreichste Land im ganzen Westen wird«, würgte Lynette hervor. Starr vor Entsetzen spreizte das Mädchen die Hände und wusste nicht wohin mit den blutbefleckten Fingern. Bei jeder Bewegung besudelte sie ihr Leinenkleid noch mehr. Keine der Hexen machte Anstalten, ihr zu helfen.
»Als du herkamst, hast du gelernt, für dich selbst zu denken!«, zürnte Josce. »Sieben Jahre lang haben wir dir nichts anderes beigebracht, als dass du für dein Tun die Verantwortung trägst. Nichts und niemand darf verletzt werden – diesen Satz hörst du von deinem ersten Jahr als Anwärterin in der Ausbildung bis zu deinem letzten Tag im Konvent.«
»Und der ist heute«, bemerkte Aveline ohne Mitleid. Sie drückte Ravenna einen der scharfkantigen Dolche in die Hand. Was soll ich damit?, dachte diese erschrocken. Doch nicht etwa …
Als die anderen Magierinnen ihre Messer zückten, hob sich ihr Arm ganz von selbst. Lynette sank in ihrer Mitte auf die Fersen. Die Spitzen der Dolche zeigten auf ihren nassen Scheitel.
»Was Morrigan gefügt hat, zerschneiden wir nun«, sprach Viviale und die anderen fielen in den Singsang ein. Ihre Stimmen hallten wie aus einem tiefen Brunnen. »Das Band der Freundschaft. Das Band zwischen Lehrerin und Schülerin. Das Band der Sieben.«
Bei den letzten Worten raffte Viviale Lynettes blonde Locken und kürzte sie mit schnellen Schnitten auf Kinnlänge. Die abgetrennten Strähnen fielen auf den Boden. Jede der Sieben trennte eine Locke ab, auch Ravenna. Dann traten die Hexen einen Schritt zurück.
Lynette weinte still vor sich hin, als sie aufstand. Diesmal waren es ihre eigenen Tränen, das Bluten hatte aufgehört. Mavelle gab dem Mädchen das goldene Amulett zurück.
»Nun hast du erreicht, was du wolltest: Du bist wieder ganz auf dich gestellt«, sagte sie. »Geh dich jetzt umziehen und deine Sachen holen! Danach wird Darlach dich bis in die nächste Ortschaft begleiten. Wohin dich dein Weg auch führt, vergiss nie, Lynette: Du bist durchschaut. Falls du jemals wieder versuchen solltest, Schadenszauber zu wirken, wird dir das Blut aus Mund und Nase strömen, bis du daran erstickst.«
Ravenna blickte der jungen Frau hinterher, die langsam und mit gesenktem Kopf zum Wohntrakt ging – allein. Keine der anderen Schülerinnen wagte sich in Lynettes Nähe, und von ihren ehemaligen Freundinnen fehlte jede Spur.
»Es werden immer mehr, die mit den Schwarzmagiern im Bunde stehen«, murmelte Nevere. »Und jetzt sogar eine unserer Schützlinge. Lynette war begabt, aus ihr hätte eine großartige Zauberin werden können.«
Viviale zuckte die Achseln. Der gespenstische schwarze Schimmer auf ihrem Gesicht verblasste allmählich, und sie wirkte bekümmert und müde. »Bedenke, dass wir das Mädchen höchstwahrscheinlich vor größerem Schaden bewahrt haben«, meinte sie, während sie das Haar ins Becken fegte. »Wer weiß, was sie geopfert hat, um uns diesen Streich zu spielen. Denn ein Opfer fordern die
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