Die Hexen - Roman
Hexenverfolgungen gegeben. In den Geschichtsbüchern konnte man lesen, dass sie erst einige Zeit später begannen und dann umso schrecklicher wüteten. 1487 erschien der Hexenhammer – ein Buch, das genau beschrieb, was eine Frau angeblich zur Hexe machte, wie sie zu verfolgen und unter welchen Qualen sie zu vernichten sei. Zehntausende unschuldiger Menschen sollten in den kommenden Jahrhunderten den Tod finden, bevor der Hexenwahn verebbte. Danach gab es in ganz Europa keine Magierinnen mehr. Und sie war die Einzige im Saal, die über das Ausmaß der bevorstehenden Katastrophe Bescheid wusste.
Langsam setzte sie sich an die lange Tafel. Sie schloss die Finger um Josces Siegel, bis ihre Knöchel hervortraten, und dachte nach. Sie begriff nun, dass sie am Anfang dieser Entwicklung stand. Noch ist es nicht passiert, dachte sie. Und die Sieben haben keine Ahnung, was ihnen bevorsteht.
»Was hat sie?«, fragte Aveline und beugte sich über die Tischplatte.
»Sie sammelt sich«, schlug Nevere vor, aber die kleine Elfe schüttelte den Kopf. »Sie hat das Gesicht. Sie sieht gerade in die Zukunft«, meinte Mavelle.
Ravenna hörte kaum, was die Sieben über ihren Kopf hinweg miteinander beredeten. War es tatsächlich möglich, dass eine unerklärliche Absicht hinter ihrem Sturz durch das Zeittor stand? Besaß sie wirklich eine Gabe, mit der sie verhindern konnte, was in den nächsten siebenhundert Jahren geschah?
Aber wie soll ich es denn verhindern – ich ganz allein?, dachte Ravenna verzweifelt. Die Wunde auf ihrer Wange brannte. Eine Handbreit tiefer und der Pfeil hätte ihren Hals durchbohrt. Sie war nicht unverwundbar, auch wenn sie aus der Zukunft kam. Und sie war nicht im Geringsten auf dieses Abenteuer vorbereitet. Sie drehte den Kopf und blickte zur Tür. Lucian stand dort, zusammen mit den anderen jungen Rittern, und wartete auf ihre Entscheidung. Ihr habt mein Wort – dieser Satz ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Sie atmete tief durch. »Ich werde es tun«, verkündete sie laut und deutlich. Die Gespräche verstummten und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden richtete sich auf sie. »Was ihr da von mir verlangt: Ich bin bereit, es zu tun. Heute ist ein Mann gestorben – meinetwegen. So kann es nicht weitergehen.«
Der König nickte anerkennend. »Eure neue Schülerin hat Mut«, stellte er fest. »Aber weiß sie auch, wovon sie redet?«
»Woher denn?«, knurrte Josce. »Sie ist doch erst zwei Tage hier. Und wie wir gerade gehört haben, können wir nicht davon ausgehen, dass ihre Welt noch dieselbe ist wie unsere.«
Allerdings, dachte Ravenna, in meiner Zeit hat sich so manches verändert. Zum Beispiel lauert niemand mehr mit gezücktem Schwert im Wald. Mühsam stand sie auf. Ihre Knie waren steif von dem scharfen Ritt. »Ich werde es tun«, wiederholte sie. »Ich werde den Tag des Turniers gemeinsam mit euch erleben und den Sieger bei der Schwertleite begleiten.«
Und wenn es Beliar ist, dachte sie insgeheim, werde ich ihn vor aller Augen und Ohren als Schwarzmagier entlarven.
Wahrheitsfindung
Kurz darauf rüsteten sich die Sieben zum Abritt. Sie wollten vor Einbruch der Dunkelheit in den Konvent zurückkehren. Ravennas Stimmung hob sich nicht gerade, als sie daran dachte, dass sie dieselbe Wegstrecke wieder zurückreiten mussten, doch Constantin versicherte ihnen, dass seine Späher keinen einzigen Feind mehr entdeckt hatten. Offenbar hatten sich der schwarze Marquis und seine Krieger zurückgezogen, nachdem der Überfall gescheitert war.
»Ravenna.«
Sie fuhr herum, als sie Lucians leisen Ausruf hörte. Er stand in dem Gang, der vom Ratssaal zu den Stallungen führte, und schien auf sie gewartet zu haben. Jetzt kam er auf sie zu.
»Das war sehr mutig.« Langsam ging der junge Ritter neben ihr her. Ihre Schritte hallten auf dem Steinboden. Durch die hohen Bogenfenster sah man in den Hof hinunter. Vor den Ställen wurden soeben die Pferde gesattelt. »Ihr habt diesen Beliar gesehen, nicht wahr? Ihr wisst, worauf Ihr Euch einlasst.«
Bisher hatte sie noch kein Wort gesagt. Jetzt blieb sie stehen. »Ja, ich habe ihn gesehen. Und nein, ich habe keine Ahnung, worauf ich mich einlasse. Gibt es denn keine Möglichkeit, den Marquis auszuschalten, bevor er noch mehr Unheil anrichtet?«
Aufmerksam betrachtete Lucian das Triskel, das sie trug. Das Hexenkleid hatte einen weiten Ausschnitt und man konnte die Halskette gut sehen. Endlich seufzte er und schüttelte den Kopf. »Es war ein kluger Schachzug
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