Die Hexen - Roman
den Hof. Schweigend versammelten sich die Schülerinnen auf der vordersten Aussichtsterrasse. Die Regenwolken hatten sich verzogen, der Abendhimmel glänzte tiefblau. Scharf und weiß stand die Mondsichel über dem Flusstal.
Auf der Terrasse war ein großes Becken aufgemauert. Auch hier kehrte das Motiv aus dem Blauen Saal wieder: Die Siegel der Magierinnen waren als Mosaiken in den Fliesen rund um das Becken eingelassen.
Voller Unbehagen fasste Ravenna sich an den Oberarmen. Die Luft war kühl, und sobald Wind aufkam, fror sie. Die Sieben waren zornig. Schwarz verschleiert hatten die Magierinnen rund um das Becken Aufstellung genommen. Jede trug einen kurzen Dolch am Gürtel, ein Hexenmesser mit dreieckiger Klinge. Ein Platz am Brunnen blieb leer.
Das ist Melisendes Platz – eigentlich sollte ich dort stehen, dachte Ravenna. Aber man hatte ihr gesagt, dass sie an diesem Abend nicht zur Runde der Magierinnen gehören würde. »Nicht bei diesem Ritual«, hatte Viviale entschieden erklärt. »Du bist noch nicht so weit.«
Deshalb stand sie einige Schritte abseits unter einem Baum und beobachtete das Geschehen. Die Ankündigung, dass sich an diesem Abend etwas Besonderes ereignen sollte, und das lange, regungslose Schweigen der Sieben erzeugten eine unangenehme Spannung. Das Tor zum Innenhof war geschlossen, und die Hexen blieben diesmal unter sich.
Ravenna zuckte zusammen, als die Zauberinnen plötzlich die Dolche erhoben. Alle beschrieben zur selben Zeit denselben Bogen und reckten die Klingen in den Himmel. Wie machen sie das?, schoss es Ravenna durch den Kopf. Anklagend glänzten die Schneiden vor dem Mond.
»Morrigan«, sprachen die Sieben wie aus einem Mund. Die Stimmen unter den Schleiern klangen dumpf. »Göttin der Hexen, erwache und öffne deine Augen.«
Murmelnd sprach der Chor der vielen Mädchenstimmen diese Worte nach. Ravenna lief ein Schauer über den Rücken. Ihr fiel auf, dass manche der Jungmagierinnen zu der Statue aufblickten, die auf der Kuppel des Aussichtstürmchens stand. Sie hob ebenfalls den Blick.
Die Figur aus rotem Sandstein, in weite Gewänder und einen langen Schleier gehüllt, trug einen Bogen aus Sternen über dem Kopf und hielt einen Stab in der Hand, während sie den linken Arm in einer magischen Geste über das Flusstal streckte.
Etwas stimmt nicht – die Hände sind vertauscht!, durchzuckte es Ravenna. In meiner Zeit ist es genau anders herum: Links hält sie den Stab und rechts segnet sie. Weshalb war ihr das noch nie aufgefallen, wenn sie den schmalen Durchgang zum Garten der Hexen benutzte, der sich am Fuß des Türmchens vorbeischlängelte?
Die linke Hand erteilt den Segen, hatte Josce ihr auf dem Rückweg von der Burg eingeschärft. Die Linke ist dem Herzen näher. Alles, was du damit tust, ist aufrichtig gemeint. Vergiss das nicht, wenn du während der Schwertleite vor deinem Ritter stehst.
Aufgeregt versuchte Ravenna, der Figur ins Gesicht zu sehen. Es war keineswegs dieselbe Statue, die siebenhundert Jahre später an dieser Stelle stehen sollte. Auf der Spitze des Stabs saß ein Tierkopf. Im schwachen Licht konnte sie nicht erkennen, was es war. Eine Wölfin oder ein Bär vielleicht.
Frierend wandte sie die Aufmerksamkeit wieder dem großen Becken zu. Die Hexendolche senkten sich und die Sieben schoben die Klingen wieder in die Lederscheiden am Gürtel. Dann streiften sie die Schleier zurück.
Ravenna keuchte. Die Gesichter der Sieben schimmerten wie schwarzes Glas. Nur die Wimpern, die Lippen und der Haaransatz leuchteten in einem frostweißen Licht. Als Viviale das Wort ergriff, dröhnte ihre Stimme, als würden durch sie alle Hexen sprechen.
»In letzter Zeit haben sich im Reich König Constantins und in der freien Stadt Straßburg Dinge ereignet, die wir keinesfalls hinnehmen können.« Ihre Stimme hallte. Das war nicht länger die freundliche, untersetzte Frau, die Ravenna am Abend ihrer Ankunft willkommen geheißen und den Boten ins Tal geschickt hatte. Der arme Mann war unverrichteter Dinge aus Ottrott zurückgekehrt. Im dreizehnten Jahrhundert gab es dort kein Gasthaus zur Rebe.
Ravenna schluckte. Ihr Mund war trocken und sie musste zugeben, dass sie Angst hatte. Sie wusste nicht, worauf dieser Abend hinauslief; niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie auf die Ereignisse vorzubereiten. Die anderen Mädchen schwiegen.
»König Constantin hat uns heute von Vorfällen berichtet, die unter den Bewohnern der Stadt Besorgnis erregen: von ertrunkenen
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