Die Hexen - Roman
dunklen Mächte immer, und mit jedem Mal verlangen sie ein bisschen mehr.«
Gurgelnd lief das Wasser ab. Nun sah das Becken wie ein ganz gewöhnlicher Brunnen aus. Da die Augen nicht mehr unter Wasser lagen, wirkten sie starr und leblos. Die magischen Strahlen waren erloschen.
»Geh ins Bett und schlaf, ehe Esmee dich morgen in aller Früh aus den Federn holt«, riet Aveline Ravenna. »Nach dem Ritt und dem Bad musst du völlig erledigt sein. Du weißt, dass uns für die Vorbereitung zum Turnier nur noch ein einziger Tag bleibt.«
Ravenna nickte. Allerdings, das hatte sie nicht vergessen. Ein einziger Tag, um herauszufinden, wie sie mit dem König der Schwarzmagier fertigwurde.
Bevor sie zum Wohntrakt ging, schaute sie schnell im Stall vorbei und versorgte Willow mit einem Apfel und einigen Streicheleinheiten. Ohne die trittsichere Stute wäre der Ritt zu Constantins Burg sicher weniger glimpflich verlaufen. »Das war wie in dem Märchen von der Stute, die ihren Schweif verlor«, flüsterte Ravenna in das weiße Pferdeohr. »Der betrunkene Reiter wollte den Hexen heimlich beim Tanzen zusehen, aber sie entdeckten ihn. Fast hätten sie den Trunkenbold noch erwischt, aber die Stute war schneller und brachte ihren Herrn sicher nach Hause. Allerdings packte eine Hexe sie am Schweif und riss ihn ihr bis auf das letzte Haar aus.«
Mit geschlossenen Augen schmiegte sie sich gegen die Pferdeschulter. Nach einer Weile glaubte sie, es wäre ihr kleiner Tinkerwallach Johnny, an den sie sich anlehnte, und wenn sie die Augen aufschlug, wäre sie daheim in ihrer Welt, wo es weder Augenbrunnen noch Teufelsbeschwörungen gab, wo man Pferde sorglos nach Hollywoodschauspielern benannte und wo sie nicht die Last eines ganzen Zeitalters auf den Schultern spürte.
»Aber ich habe es den Sieben versprochen, nicht wahr, mein Mädchen? Alle zählen jetzt auf mich, sogar Lucian. Für das Turnier und die Schwertleite bleibe ich noch in der Hexenwelt. Dann kehre ich nach Hause zurück, aber ich werde dich vermissen – ganz bestimmt.«
Nach einem Klaps bückte sie sich unter der Absperrung hindurch und verließ den Stall. Darlach, der am Tor Wache hielt, war ein Freund: Er schmunzelte, als er Ravenna durch den Gang huschen sah, aber er tat so, als habe er ihr Kommen und Gehen nicht bemerkt.
Gähnend stieg sie die Stiege zu ihrer Kammer herauf. Sie spürte jeden Knochen in ihrem Körper und war sogar zu faul gewesen, an der Küche vorbeizugehen, um sich dort eine der kleinen Kerzen zu holen, die Arletta in einem Korb bereithielt. Das Licht reichte immer nur für eine Nacht. Aber Ravenna wollte ohnehin nichts als schlafen. Im Dunkeln stieß sie die Tür zu ihrer Kammer auf.
Lynette saß im Schneidersitz auf dem Bett.
Die Tür fiel ins Schloss und Ravenna sank atemlos dagegen. Ihr Herz pochte so heftig, dass sie meinte, man müsse die Schläge wie einen Gong im ganzen Konvent hören.
»Was machst du denn noch hier? Darlach wartet unten am Tor auf dich«, herrschte sie das Mädchen an.
Lynette lächelte. Auf dem Schoß hielt sie eine jener Wachskerzen, die Ravenna gerade verschmäht hatte. Der Lichtschein fiel von unten auf ihr Gesicht und weckte unangenehme Erinnerungen.
»Darlach ist mir völlig egal. Ich wollte mich von dir verabschieden. Immerhin bist du kaum zwei Tage hier und schon hast du erreicht, dass ich in hohem Bogen aus dem Konvent fliege.«
»Damit habe ich ja wohl kaum etwas zu tun«, meinte Ravenna. Die Kerze verströmte einen süßlichen Geruch nach Honig und Bienenwaben. Sie ging zum Fenster und wollte die frische Nachtluft in die Kammer lassen. Aber der Verschluss klemmte und das Fenster ließ sich nicht öffnen, selbst als sie daran rüttelte.
Missmutig wandte sie sich ihrer ungebetenen Besucherin zu. Von Lynettes jammervoller Verfassung vorhin am Brunnen war nun keine Spur mehr zu sehen. Sie saß mit kerzengeradem Rücken da. Statt des blutbefleckten Untergewands trug sie ein edles Kleid aus Brokat. Ihr beschämend kurzgeschnittenes Haar war unter einer mit Goldfäden bestickten Kappe verschwunden, und das Amulett der Schatten glitzerte auf ihrer Brust.
»Oh, ganz gewiss hast du etwas damit zu tun«, sagte sie und schwang die Beine von Ravennas Bett. »Deine Anwesenheit gibt diesen Gänsen genügend Selbstsicherheit, dass sie es wagen, eine ihrer begabtesten Schülerinnen zu entlassen. Nun starr mich nicht so feindselig an, ich weiß genau, wovon ich rede. Schließlich war ich fast sieben Jahre hier.«
Lynette
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