Die Hexen - Roman
etwas geschieht? Ganz sicher – die Menschen werden sich auch in siebenhundert Jahren nicht so sehr verändert haben. Im Fackelschein wirken die Sieben vielleicht mächtig und eindrucksvoll. In Wahrheit sind sie aber genauso wie alle anderen Menschen, mit allen Fehlern, Schwächen und Lügen.«
Das stimmt allerdings, dachte Ravenna. In ihrem Gedächtnis lief immer wieder der Überfall ab, und sie sah den jungen Marlon regungslos in der Wiese liegen, während sich die Sieben im Hintergrund hielten.
»Und wenn schon«, sagte sie müde. »Das alles geht mich wirklich nichts an. Ich erfülle hier meine Aufgabe und dann gehe ich wieder.« Zwei Tage noch, dachte sie. Zwei Tage, dann ist alles vorbei.
»Es ist niemals vorbei«, sagte Lynette leise, als könne sie Gedanken lesen. »Nicht einmal in deiner Welt.«
Sie ging zur Tür. Der Luftzug ließ die Kerze flackern, dann war Ravenna allein. Betäubt starrte sie auf den Eingang. Lynettes Geschichte hatte ihr ins Gedächtnis gerufen, wie sie selbst hierhergekommen war: als Opfer einer Beschwörung. Keine der Frauen hatte ihr gesagt, dass sie einen verhexten Trank zu sich nahm, als sie auf dem blauen Thron saß. Und Josce schlug ihr in Gegenwart des Königs und all seiner Ritter ins Gesicht. Gab es auf dem Odilienberg überhaupt noch einen Menschen, dem sie vertrauen konnte?
Seufzend zog sie die Schuhe aus. Sie wollte sich soeben in die Kissen fallen lassen, als sie plötzlich wieder das Bild der weinenden und blutenden Lynette vor Augen hatte. Und dieses Mädchen hatte auf ihrer Decke gesessen! Nein, sie konnte unmöglich auf derselben Matratze liegen.
Sie schimpfte halblaut vor sich hin, als sie den Hexenmantel aus der Truhe kramte. Das Tuch war so gut wie neu und vollkommen trocken, da sie auf dem Ritt unbedingt ihre rote Regenjacke hatte tragen müssen. Sie wickelte sich in den Umhang und legte sich auf die Strohmatte vor dem Fenster. Die zusammengerollte Jeans diente ihr als Kopfkissen. Dieses Nachtlager war zwar hart und unbequem, aber auf Wanderritten und Zelturlauben hatte sie schon öfter so geschlafen.
Sie seufzte. Wenigstens war sie sicher, nicht von Lynette und den glotzenden Augen im Brunnen der Wahrheit zu träumen. Um sich abzulenken, dachte sie an die letzte Begegnung mit Lucian. War er ihretwegen am Burgtor stehen geblieben, um den Reiterinnen nachzusehen? Fast wünschte sie sich, dass es so wäre. Pass auf oder du verknallst dich wirklich in ihn!, rief sie sich ärgerlich zur Ordnung. Und wie soll es dann weitergehen? Eine Steinmetzin aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert und ein junger Ritter – wir würden ja ein schönes Paar abgeben.
Wenige Atemzüge später fielen ihr die Augen zu und sie schlief ein.
Die verbotene Sprache
Straßburg im Jahr 2011
Yvonne suchte eine ganze Weile, bevor sie überzeugt war, dass es wirklich keine Klingel gab. Sie trat einen Schritt zurück, beschattete die Augen mit der Hand und blickte an dem Gebäude empor. Irgendwo in dieser Villa befand sich die Praxis. Es war ein großes Gebäude, dunkelrot gestrichen, während die Fensterrahmen in weißem Marmor abgesetzt waren. Ein Neidkopf blickte vom Giebel auf den Besucher herab, eine wutverzerrte Fratze mit Widderhörnern, Spitzbart und einem Kranz aus Weinranken. Links neben dem Eingang prangte ein Messingschild mit der Aufschrift CC.
Yvonne erschrak, als ein Radfahrer klingelnd und schimpfend an ihr vorbeifuhr. Sie stand mit einem Bein auf der Straße. Entschlossen ging sie wieder unter das Vordach und nahm den Ring des Türklopfers in die Hand. Die Schläge hallten wie in einem langen, gefliesten Flur.
Wenige Minuten später blickte sie zu einem Mann auf, der in grauer Hose und weißem Hemd auf der Türschwelle erschien. Verdammt, warum hat Ravenna mir nie erzählt, wie gut Doktor Corbeau aussieht?, schoss es ihr durch den Kopf.
Durchdringend starrte sie der Hausherr an. »Sie wünschen?«
Sie streckte die Hand aus. »Mein Name ist Yvonne. Und ich habe einen Termin.«
»Sie sind also Ravennas Schwester.«
Belustigt stellte Yvonne fest, dass Doktor Corvin Corbeau die Angewohnheit besaß, beim Sprechen mit den Fingerspitzen ein Dreieck zu formen. Außerdem hatte er die Beine übereinandergeschlagen und wippte mit dem freien Fuß, was seinen Ledersessel in Schwingungen versetzte. In seinem Blick lag etwas Lauerndes. Typisch Psychologe, dachte sie. Gleichzeitig fiel es ihr schwer, sich dem Bann dieses vollkommenen Gesichts zu entziehen. Corbeau wirkte wie ein
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