Die Hexen - Roman
schöner, trauriger Engel.
»Und Sie sagen, die Polizei hat noch immer keine Spur von ihr? Tut mir sehr leid, das zu hören.«
Lügner, dachte Yvonne für sich. Es lässt dich doch völlig kalt, was mit Ravenna geschehen ist. Wer weiß, wie viele Patientinnen der Doktor schon betreut hat, die von einem auf den anderen Tag spurlos verschwunden sind.
»Weshalb mischen Sie sich in deren Arbeit ein?«, blaffte sie. »Das Bild in der Zeitung und die Einzelheiten über den Tag, an dem Ravenna ihren Job verlor – das waren Sie. Sie haben diese Informationen an die Presse weitergegeben.«
Unschuldig hob Corbeau die Augenbrauen. »Ach, deshalb suchen Sie mich auf! Die Polizei hatte mich um eine Einschätzung gebeten.« Er zuckte die Achseln. »Ich dachte, vielleicht kann ich helfen, weil ich Ihre Schwester mittlerweile ziemlich gut kenne. Und als dann der Journalist anrief, dachte ich, es wäre in Ordnung, ein wenig mehr Hintergrundinformationen zu liefern. Ich wollte dazu beitragen, dass der Fall aufgeklärt wird.«
»Möglicherweise war der Mann ja gar kein Polizist«, schnaubte Yvonne. »Haben Sie sich den Ausweis zeigen lassen? Hat er einen Namen hinterlassen? Eine Telefonnummer? Und wenn es nun der Kerl war, der den Überfall verübt hat?«
Sie hatte ihn verärgert. Ruckartig stand Corbeau auf und blätterte in dem Terminkalender, der auf dem Schreibtisch lag. Schließlich hielt er eine kleine Karte in die Höhe. »Ich habe sogar noch seine Visitenkarte, für den Fall, dass Ravenna sich bei mir meldet. Kommissar Gress. Hier bitte. Vielleicht wollen Sie ihn auch zur Rede stellen.«
Dankend lehnte Yvonne ab, als er ihr die Karte reichte. »Deshalb bin ich nicht hier.«
»Und warum dann? Um mir Vorwürfe zu machen?« Mit einer nachlässigen Bewegung warf Corbeau das Kärtchen auf den Tisch. Es fiel neben den Briefbeschwerer, eine Glaskugel, in der ein weiteres Prachtstück von Corbeaus Insektensammlung eingegossen war, irgendein riesengroßes Krabbeltier, im flüssigen Glas erstarrt. Yvonne wollte gar nicht genauer hinsehen. Sie musterte den Doktor.
»Ich bin gekommen, weil Sie mir helfen können, meine Schwester zu finden.«
Ratlos öffnete Doktor Corbeau die Hände und lächelte. »Jetzt machen Sie mich neugierig, Yvonne. Gerade eben haben Sie mir erklärt, ich solle mich nicht in die Polizeiarbeit einmischen. Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen dienlich sein kann.«
Yvonne holte tief Luft. »Indem Sie mich hypnotisieren. Ich weiß, dass Sie dazu in der Lage sind. Ravenna hat mir erzählt, dass Sie ihr eine Trance-Reise angeboten haben.«
Corbeaus Lächeln verschwand. Auf der Stirn erschien eine zornig pochende Ader. »Sie irren sich, wenn Sie mich für einen Schamanen halten. Wenn Sie Erfahrungen mit Visionen machen wollen, wenden Sie sich besser an einen Medizinmann.«
Er nimmt mich nicht für voll!, ärgerte Yvonne sich. Sie stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Mag ja sein, dass das in Ihren Ohren wie Unsinn klingt, aber es gibt da eine besondere Beziehung zwischen meiner Schwester und mir. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich sie finden kann.«
»Indem Sie auf Traumreise gehen?« Kopfschüttelnd griff Corbeau nach einem der dicken Nachschlagewerke, die im Regal standen, und kehrte zum Schreibtisch zurück. »Haben Sie das schon der Polizei erzählt, die mit Hunden und Hubschraubern nach Ihrer Schwester sucht?«
»Meinen Sie nicht, dass man jede Möglichkeit ausschöpfen sollte?«, hielt Yvonne dagegen.
Mit einem Knall schloss Corbeau das Buch und musterte sie. Seine Angewohnheit, mit der Kappe seines teuren Füllfederhalters auf den Tisch zu klopfen, machte sie nervös.
»Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass Ihre Schwester aus freien Stücken verschwunden ist? Ravenna hatte große Probleme, und zwar nicht erst seit dem Überfall. Sie fühlte sich minderwertig, nutzlos und war oft deprimiert. Manchmal sagte sie zu mir, sie habe das Gefühl, sie sei zur falschen Zeit geboren. Wissen Sie, wann sie das letzte Mal eine Verabredung hatte? Sehen Sie – Ravenna wusste es auch nicht.«
Warum erzählt er mir das?, dachte Yvonne wütend. »Ich dachte, Therapiegespräche sind vertraulich«, fuhr sie ihn an.
»Das sind sie auch. Deshalb bitte ich Sie jetzt zu gehen.« Corbeau stand auf und durchquerte den Raum. Höflich hielt er ihr die Tür auf.
»Bitte«, flehte Yvonne. Sie machte keine Anstalten, aufzustehen. »Ich brauche jemanden, der mich in einen hypnotischen Zustand versetzt. Alleine schaffe
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