Die Hexen - Roman
ich es nicht.«
Was hatte sie in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht alles ausprobiert, um in Trance zu fallen: Von Kakteensaft bis zu indischen Nüssen hatte sie jede berauschende Pflanze zu sich genommen, die ihr in den Sinn kam, was leider wirkungslos blieb und obendrein verboten war. Lange Anrufungen, stilles Fasten und ekstatischen Tanz, ganz abgesehen von dem grauenhaften Spiegelorakel, das so grässlich aus dem Ruder gelaufen war – nichts hatte eine Vision ausgelöst oder ihr einen Hinweis auf Ravennas Aufenthaltsort gegeben.
»Sie verlangen von mir, dass ich Ihnen bei einer Art Weissagung behilflich bin«, stellte Corbeau kopfschüttelnd fest. »Aber ich bin Psychotherapeut, kein Wunderheiler. Als ich Ihrer Schwester eine Hypnose vorgeschlagen habe, ging es um ihr Unterbewusstsein, nicht um eine Geisterbeschwörung. Tut mir leid, aber ich fürchte, Sie verschwenden Ihre Zeit. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
Er schien zu erwarten, dass sie nun aufstand und niedergeschmettert aus seiner Praxis verschwand. Doch Yvonne lehnte sich im Sessel zurück. »Ich gehe nicht von hier weg, bis Sie es nicht wenigstens versucht haben«, erklärte sie. Nach einem Blick auf die Standuhr fügte sie hinzu : »Die Sitzung hat gerade erst angefangen. Wir haben also noch mindestens fünfundvierzig Minuten Zeit. Keine Sorge, ich bezahle diese Stunde aus eigener Tasche.« Betont langsam holte sie einige Scheine aus ihrer Geldbörse, glättete sie und legte sie auf den Tisch. »Danach sehen Sie mich nie wieder.«
Durchdringend starrte Doktor Corbeau sie an. »Sie sind die jüngere Schwester, richtig?«, fragte er. »Irgendwelche weiteren Geschwister? Nein? Vergleichbare Krankheitsgeschichten in der Familie?« Als er Yvonnes Verwirrung bemerkte, winkte er ab. »Warten Sie hier.«
Während er in den Nebenraum ging und dort rumorte, sah Yvonne sich in der Praxis um. In dem Sitzungszimmer mit den antiken Möbeln und der tickenden Uhr herrschte eine bedrückende Atmosphäre. Auf den Fensterscheiben spiegelte sich ein Teil des Raums. Von den zahlreichen, in Leder gebundenen Büchern bis zu den Glaskästen voller Insekten wirkte die Einrichtung wie auf einem alten Ölgemälde, und es schien Yvonne, als würde sie ständig beobachtet, auch wenn Corbeau nicht im Raum war. Hier hatte Ravenna also gesessen und einem fremden Mann ihr Herz ausgeschüttet. Wie sollte man davon gesund werden?
Sie stand auf und schlenderte an den Bücherregalen entlang. Die meisten Titel sagten ihr nichts. Sie arbeitete in der Abteilung für Handschriften und alte Drucke, wo sie dafür sorgte, dass zerstreute Kunst- und Archäologiestudenten Stoffhandschuhe überstreiften, ehe sie die kostbaren Dokumente berührten. Mit Psychologie und der Lehre von der menschlichen Seele hatte sie sich noch nie befasst. Oder vielleicht doch?, dachte sie, während sie mit dem Finger ein Lehrbuch aus dem Regal kippen ließ, den Titel las und es wieder zurückstieß. Vielleicht hatte sie nur Studien einer völlig anderen Art betrieben? Was würde Corbeau wohl sagen, wenn sie ihm erklärte, dass sie sich während ihrer Mediationen an eine Art Weltgedächtnis angeschlossen fühlte, in dem sämtliche Ereignisse gespeichert waren, von der ersten bis zur letzten Sekunde? Wahrscheinlich weist er mich umgehend in die Geschlossene Abteilung ein, dachte sie und grinste.
In diesem Augenblick kehrte Corbeau ins Sitzungszimmer zurück. Schuldbewusst zog Yvonne das Schiebefenster des Kastens zu, der eine Auswahl riesengroßer, gehörnter Käfer enthielt. Die Tiere wirkten überaus lebendig, so als könnten sie jeden Augenblick aus ihrem durchsichtigen Gefängnis entkommen. »Tut mir leid. Ich wollte nicht … ich dachte nur … ach, ich bin einfach krankhaft neugierig.«
Corvin Corbeau gönnte ihr ein schmallippiges Lächeln. »Zwanghaftes Kontrollverhalten. Dagegen gibt es tatsächlich eine Therapie. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen wollen.«
Yvonne ging mit ihm in den Nebenraum. Der Doktor hatte sich umgezogen, stellte sie fest. In der bodenlangen schwarzen Robe, die seinen Oberkörper eng umschloss, wirkte er wie ein Druide. Seine Sohlen verursachten beim Gehen keinerlei Geräusch und die Bewegungen wirkten konzentriert. Er bedeutete Yvonne, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und den Gürtel zu lockern.
Eine innere Spannung erfasste sie. In den Nebenraum drangen keine Geräusche von außen. Ein Zimmerbrunnen plätscherte und es roch schwach nach Sandelholz. Die Rollos ließen nur
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