Die Hexen - Roman
gedämpftes Licht ein. Auf dem Parkett bildeten große, weiße Steine einen Ring, in dessen Mitte eine Matte lag. Corbeau bedeutete Yvonne, sich dort auf den Rücken zu legen. Also doch ein Schamane, dachte sie zufrieden. Sobald sie eine bequeme Haltung eingenommen hatte, fühlte sie sich vollkommen gelöst. Die durchwachte Nacht steckte ihr in den Knochen und sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu gähnen.
Im Schneidersitz nahm Corbeau am Kopfende der Matte Platz. »Ich werde Sie jetzt auf die Hypnose vorbereiten. Anschließend befolgen Sie einfach meine Anweisungen, dann geht es ganz leicht.«
Yvonne nickte. Sie entspannte sich, als ihr Corbeau das Haar aus dem Gesicht streifte. Dann hielt er ein Pendel aus Silber über ihr Gesicht. Es war wie eine Hand geformt, die in die Tiefe zeigte. Seine Stimme klang tief und voll.
»Yvonne, du wirst jetzt dieses Pendel beobachten. Sieh, wie es über dir kreist … du spürst deinen Herzschlag … er wird langsam … und noch langsamer … dein Atem fließt ganz ruhig … sieh auf das Pendel … es dreht sich … und dreht sich … es windet sich … wie eine Treppe, auf der du in die Tiefe steigst …«
Die Augen fielen ihr zu. Im Geiste stand sie wirklich auf einer Treppe, die in einen gemauerten Schacht hinabführte. Neugierig begann sie in die Tiefe zu steigen … tiefer … und immer tiefer, wie Corbeaus Stimme ihr befahl. Schließlich gelangte sie auf den Grund des Schachts. In der Mauer lag eine Tür aus Eisen. Die Stimme forderte sie auf, den schweren Riegel zurückzuziehen und die Tür aufzustoßen. Sie mühte sich eine Weile mit dem verrosteten Schieber, ehe es gelang.
»Was siehst du?«, fragte Corbeau.
»Einen Raum mit einem Kreuzgewölbe«, erwiderte Yvonne, tief in Trance. Ihre Stimme hallte unter der hohen Decke, die von einer Öllaterne beleuchtet war. An einem Tisch in der Mitte saßen vier Männer. Sie trugen Kappen aus Samt und ihre Mäntel waren mit Hermelin verbrämt. Als Yvonne eintrat, unterhielten sie sich leise. Dann richteten sie die Aufmerksamkeit auf sie. Einer der Männer stand auf.
»Herrin Melisende, man hat Euch nun endgültig der Schadenszauberei überführt«, sagte er ruhig. »An der Ulme beim Löwentor wurde ein Bezoar gefunden.« Bei diesen Worten deutete er in eine Ecke des Raums. Yvonne drehte sich um. Dann zuckte sie heftig zusammen. Ein Junge von vielleicht zehn Jahren kauerte an der Wand. Er stöhnte, sein Hemd und seine Haare waren blutig. Eiserne Schellen ketteten seine Arme an einen Ring in der Mauer.
»Was ist denn hier los?«, fuhr Yvonne auf. Von Corbeau kam keine Antwort. Ihr Herz klopfte heftig, als sie sich wieder zu dem Richtertisch umdrehte.
»König Constantin hat uns die Echtheit des Steins bestätigt, auch wenn er seine vorschnelle Antwort hinterher bereute«, fuhr der Mann fort. »Wir wissen, dass dieser Junge – Remi – mit Euch gemeinsame Sache machte, denn er konnte den magischen Stein in der Hand halten, ohne dass er Schaden erlitt. Das bedeutet, dass auch er der Schwarzen Magie mächtig ist. Leugnen hat nun keinen Zweck mehr. Gesteht Ihr endlich ein, eine Hexe zu sein?«
»Aber … ich suche doch nur meine Schwester. Wo bin ich überhaupt?« Yvonne erschrak, als sie merkte, dass sie auf die Frage des Richters antwortete. Sie war als Beobachterin hier und durfte sich nicht zu sehr in die Vision ziehen lassen. Hoffentlich hat Corbeau alles im Griff, dachte sie.
»Ihr seid im Hexenturm zu Straßburg, wo Ihr hingehört!«, zischte einer der Männer. Ein Buckel erlaubte ihm nicht, sich aufrecht hinzusetzen, und er starrte sie hasserfüllt an. »Ja, starrt mich nur an! Weidet Euch an meiner Hässlichkeit! Dass ich entstellt bin und mir mein Brot nicht mehr selbst verdienen kann, habe ich Euch zu verdanken! Ihr habt meine Rösser verhext, so dass sie scheuten und ich von meinem eigenen Bierwagen überrollt wurde.«
Ein Hexenturm zu Straßburg?, dachte Yvonne bestürzt. Ihr war kein derartiges Bauwerk bekannt. Sie würde Ravenna fragen müssen, ob es so einen Turm wirklich gegeben hatte, denn als Steinmetzin kannte sie sich in der Stadtgeschichte besser aus.
»Meine Schwester – wo ist sie?«, fragte sie den Buckligen.
»Da hört Ihr es wieder! Sie wagt es, die Hohe Richterschaft zu verspotten!«, zischte der verunstaltete Bierbrauer. »Machen wir diesem Treiben ein Ende! Sprechen wir endlich das Urteil über Melisende vom Hexenberg und verbrennen sie gemeinsam mit Remi.«
Der Junge wimmerte. Voller
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