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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Suche nach meiner Schwester, die seit ein paar Tagen verschwunden ist. Doktor Corbeau? Doktor Corbeau! Holen Sie mich zurück! Irgendetwas läuft völlig schief!«
    Die letzten Worte schrie sie aus vollem Hals. Wie eine Ertrinkende klammerte sie sich an einen Erinnerungsfetzen, der ihr sagte, dass sie irgendwo in der Petite France auf dem Parkettboden einer Praxis lag und eine Traumreise machte. Aber in was für eine Horrorvorstellung war sie da geraten!
    »Sie ruft nach ihrem Verbündeten! Sie ist eine Teufelsbuhle!« Schaudernd wandte der Bucklige sich von ihr ab. Der Junge schluchzte leise und versteckte sein Gesicht in der Armbeuge.
    »Erzählt mir von dieser Schwester.« Aufmerksam beugte sich der Graubart zu ihr. »Ist sie wie Ihr? Besitzt sie auch übernatürliche Kräfte? Kräfte der Art etwa, die ihr erlauben, die magischen Tore zu durchqueren?«
    Alle Alarmsirenen in Yvonnes Kopf schrillten. So benebelt sie vor lauter Angst war – sie begriff, dass sie Ravenna in höchste Gefahr brachte, sobald sie noch ein weiteres Wort sagte. Warum brach dieser verdammte Corbeau die Hypnose nicht endlich ab?
    »Ich habe nichts weiter zu sagen«, stieß sie hervor.
    Ein Ausdruck des Bedauerns huschte über das Gesicht des Graubärtigen. »Wollt Ihr denn wirklich nicht reden? Damit wären wir gezwungen, die gütliche Befragung abzubrechen und andere Maßnahmen zu ergreifen.«
    Stumm schüttelte Yvonne den Kopf. Der Mann mit dem grauen Bart beugte sich zu den anderen Richtern vor und sie berieten sich halblaut. »Da Ihr nicht reden wollt, sind wir gezwungen, die Befragung zu verschärfen«, erklärte der Graubart schließlich. Er gab dem Mann, der hinter Yvonne stand, einen Wink. Trotz ihrer Gegenwehr schleifte man sie zu einer hölzernen Bank.
    »Ich weiß nicht, wo Ravenna ist!«, brüllte Yvonne aus Leibeskräften. »Wenn ich es wüsste, wäre ich doch nicht hier! Ich suche sie, die Polizei sucht sie, ganz Straßburg sucht nach ihr. Und jetzt will ich wieder zurück!«
    Ihre Knie zitterten. Der kalte Boden unter ihren Füßen, der grobe Stoff und der Gestank in diesem Raum – das alles war viel zu real und zu schrecklich, um bloß ein Traum zu sein. Ich bin in eines meiner früheren Leben geraten, dachte sie. Oder in das einer meiner Vorfahrinnen. Was passiert nur mit mir, wenn ich in diesem Alptraum sterbe? Sterbe ich dann in Wirklichkeit auch?
    Der Junge Remi stieß schrille Schreie aus, ehe ihn ein Schlag auf den Kopf zum Schweigen brachte. So muss es gewesen sein, durchzuckte es Yvonne. Genau so – die armen Frauen redeten völlig umsonst gegen den Irrsinn ihrer Henkersknechte an, und es gab nichts, was ihnen helfen konnte. Ganz gleich, ob sie logen oder beim Leben ihrer Kinder auf die Wahrheit schworen: Die Überzeugung, dass sie Hexen waren, hatte sich schon vor dem Verhör in den Köpfen der Richter festgesetzt.
    Als sie auf der Bank lag, zwang sie sich, langsam und ruhig zu atmen. Dann dachte sie an Mémé. Du hast es verboten, sagte sie im Stillen zu ihrer Großmutter. Seife ist besser als Feuer, hast du gesagt und ich verstehe dich jetzt. Aber möglicherweise ist die verbotene Sprache jetzt meine einzige Rettung.
    »Baðor«, schrie sie und im nächsten Augenblick regnete es Fledermäuse von der Decke. Zu Hunderten fielen die Tiere aus dem Halbschatten, umschwirrten den Richtertisch und und erfüllten die Luft mit ihren nadelspitzen Schreien.
    Remi kreischte vor Entsetzen noch lauter als die Männer. Wie ein Irrer warf sich der Junge hin und her und trat mit den Füßen nach den Fledermäusen, die ihn umflatterten. Der Bucklige stieß den Tisch um und verkroch sich dahinter. Der Grauhaarige sah Yvonne vollkommen ruhig an. Da wusste sie, dass er von allen Richtern der Gefährlichste war und ein vernichtendes Urteil über sie sprechen würde.
    »Lyeinier!«, befahl sie. Die Knoten lösten sich und die Stricke fielen zu Boden. Dennoch konnte sie nicht aufstehen, sie lag auf dem Rücken und bekam kaum Luft. Langsam erhob sich der alte Graubart und streckte ihr ein umgedrehtes Pentagramm entgegen.
    »Sie ist enttarnt! Sie hat dieses Höllengetier gerufen und sich selbst von den Banden befreit! Melisende ist eine Hexe.«
    »Fleoge chaim!«
    Die Wolke aus Fledermäusen zerstob. Gleichzeitig spürte Yvonne, wie sie in die Luft gehoben wurde und schwebte … oder fiel … sie fiel wie in einem Traum, in dem man vom Fallen träumt.
    Ihr Körper zuckte. Sie ruderte wild mit ihren Armen und Beinen, aber es gelang ihr

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