Die Hexengabe: Roman (German Edition)
fragte er nach einer langen Pause.
Eine Menge, dachte Rosa, eine Menge, aber etwas hinderte sie daran, ihm vom Engel der Wahrheit zu erzählen. »Und was kannst du, außer Gottes Wort zu verdrehen?«
»Nichts, leider gar nichts. Ich denke, wir müssen ganz auf dich setzen, jedenfalls so lange, bis die Amalberga am Kap einläuft und ich mir holen kann, was mir zusteht.«
Ein Vogel schoss direkt neben dem Boot ins Wasser und tauchte mit einem zappelnden Fisch im Schnabel wieder auf. Luis sah über die Bordkante und rief Rosa zu: »Warte, da schwimmt etwas, hör auf zu rudern!« Er beugte sich vor und zog ein Büschel Seetang heraus. »Das ist gut, ich bin sicher, es kann nicht mehr weit sein. Und wenn wir Glück haben, bleibt der Wind so.« Er rutschte näher an Rosa heran, seine Hände umfassten ihre Schultern.
»Hast du nicht gehört, Rosa, wir werden es schaffen!«
Rosa spürte seine schweren Hände auf ihren Schultern und wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte, deshalb klammerte sie sich an die Ruder und ignorierte ihn.
»Rosa!« Seine Hand griff nach ihrem Kinn. Sie spürte die trockene, schuppige Haut der aufgerauten Handinnenfläche.
Überrascht ließ Rosa die Ruder los und sah ihm ins Gesicht. In diesem Augenblick krachte das rechte Ruder gegen etwas. Erschrocken fuhr sie zusammen, Luis schnappte sich das Ruder, kurz bevor es im Wasser versank.
»Was war das?«
»Hoffentlich einer der vielen Felsen, die vorm Kap unter der Meeresoberfläche versteckt liegen. Denn das würde bedeuten, wir sind schon ganz in der Nähe der Küste. Gib mir das andere Ruder, es kann nicht mehr weit sein!«
Rosa überließ ihm die Ruder nur allzu gern; die Blasen an der rechten Hand waren aufgebrochen und zu tiefen Fleischwunden geworden, und sogar links hatten sich große Blasen gebildet.
Sie lehnte sich zurück, merkte nun, da sie sich nicht mehr auf das Rudern konzentrierte, wie erschöpft sie war. Ihr Blick glitt suchend über das Meer. Eine Küstenlinie konnte sie nicht erkennen.
Doch … dort drüben, was war das? Sie kniff die Augen zusammen, um deutlicher sehen zu können.
»Da, da ist etwas!«, rief sie. Sie zeigte mit dem Finger hinter Luis, er drehte sich um.
»Das sieht aus wie Felsen, und darauf ist eine Pinguinkolonie. Wir haben es geschafft!«
Pinguine? Davon hatte Rosa noch nie gehört, aber sie wusste jetzt schon, dass sie diese Tiere lieben würde. Tiere, Felsen – Land!
Luis drehte das Boot in die Richtung, in der die Felsen emporragten, und ruderte noch stärker. Doch das Boot sperrte sich, wollte nicht in diese Richtung.
»Verdammte Strömungen!«
Er arbeitete verbissen, und schließlich näherten sie sich dem Felsen, auf dem Rosa erst beim Herannahen seltsame Tiere erkennen konnte. Kleine putzige Tiere, die merkwürdige Arme hatten, mit denen sie flattern konnten. Manche stürzten sich von den Felsklippen kopfüber ins Wasser.
»Was sind denn das für Tiere? Vögel oder Fische?«
»Es sind Vögel, aber sie können nicht fliegen, dafür schwimmen sie so gut wie Fische.«
»Sie sind wunderschön.« Wahrscheinlich fände ich jetzt selbst Riesenspinnen oder Schlangen wunderschön, dachte Rosa.
In diesem Moment krachte das Boot unter ihnen auf einen Felsen, dessen Spitze sich durch das Boot bohrte.
»Ich kann nicht schwimmen!«, schrie Rosa, die mit Entsetzen sah, wie Wasser eindrang, schneller und schneller und schneller.
»Du musst ruhig bleiben, dann werde ich uns beide an Land bringen, hast du verstanden?«
»Ja«, schrie Rosa, aber die Entfernung zum Strand kam ihr noch unendlich vor. Wie wollte Luis das schaffen? Ihr Herz raste schlimmer als in der Nacht, als sie von Bord gegangen waren.
Das Boot wurde von der Brandung wieder gegen die Felsen unter der Wasseroberfläche geschleudert und zerbrach. Rosa klammerte sich an Luis. Sie atmete stoßweise, und ihre Muskeln zuckten unkontrolliert.
»Bleib verdammt noch mal ruhig!«, brüllte Luis. »Häng dich an meine Schultern, dann beweg dich nicht mehr, und mach deine Augen zu!«
Auf keinen Fall, dachte Rosa, egal wie das Wasser in den Augen brennt. Ich muss doch sehen, was hier vor sich geht. Sie krallte ihre wunden Finger in Luis’ Schultern, der zu ihrem großen Erstaunen zügig im Wasser vorwärtskam.
Sie spürte an ihrem Bauch, an den Oberschenkeln, den Waden so etwas wie ein Streicheln, Kitzeln. Luis konnte das nicht sein, der schwamm Zug um Zug. »Was ist das?«
»Nur Seegras und Seetang: Das, was ich dir im Boot gezeigt
Weitere Kostenlose Bücher