Die Hexengabe: Roman (German Edition)
alles erkunden.
Sie lief den Strand entlang, durch die kalte, schaumig weiße Brandung, entdeckte Vögel, die aussahen wie Reiher und Möwen. Am Strand lagen Algen, um die sie einen Bogen machte, und weil sie dabei ständig auf den Boden sah, entdeckte sie große Muscheln.
Muscheln! Die konnte man bestimmt essen. Sie sammelte, so viele sie tragen konnte, in den Saum ihres Hemdes und lief wieder zurück zu Luis.
Plötzlich sah sie etwas am Horizont, und sie ließ vollkommen überrascht die Zipfel ihres Hemdes los. Die Muscheln fielen in den Sand. Rosa kniff die Augen zusammen, rieb sie und sah noch einmal hin. Weit entfernt im Dunst war ein Gebirgszug, über dem weiße Wolken hingen wie ein Sahnehäubchen.
Sie bückte sich und sammelte die schwarzen Muscheln wieder ein, dann rannte sie zu Luis, legte die Muscheln ab und rüttelte ihn.
»Wach auf, wach auf!«
Stöhnend setzte er sich auf. »Was gibt es denn so Wichtiges?«
»Komm mit!«
Rosa zog ihn hoch und stürmte mit ihm weiter vor bis zur Brandung und zeigte nach Süden.
Luis riss überrascht seine Augen auf und pfiff. »Das ist der Tafelberg, der da unter den Wolken liegt. Dann sind wir nicht allzu weit entfernt vom Kap der Guten Hoffnung. Wenn wir den Strand entlang in diese Richtung laufen, dann kommen wir dort an.«
»Dann gehen wir doch!«
»Ich habe Hunger, und was noch schlimmer ist, ich habe Durst.«
»Ich habe Muscheln gesammelt, die könnten wir essen.«
Luis pfiff noch begeisterter als gerade eben.
Sie liefen zurück, hockten sich in den feuchten Sand und öffneten die Muscheln mit Siranushs Dolch, was sehr schwierig war, denn die Ränder schnitten in ihre noch vom Rudern wunden Hände. Sie mussten sie eingraben und konnten dann erst die Dolchspitze zwischen die Schalen zwängen.
Gierig schlürften sie die Meeresfrüchte aus.
»Woher hast du eigentlich diesen Dolch?«, fragte Luis, nachdem sie schweigend gegessen hatten. Er betrachtete Rosa so aufmerksam, dass es ihr vorkam, als würden seine Augen ihre Haut streicheln.
»Ein Geschenk.« Sie hatte keine Lust, ihm die Geschichte von Siranush zu erzählen und sich wieder seinem Spott auszusetzen.
»Von einem Mann?«
Er sah sie fragend an, griff nach ihrer linken Hand und berührte ihren Hexenfinger. Rosa schnappte überrascht nach Luft und vergaß, was sie ihm hatte antworten wollen.
»Wie fühlt sich das für dich an?«
Sie entzog ihm ihre Hand und damit den Finger, den außer ihr nur ihre Schwester Dorothea jemals angefasst hatte.
»Das geht dich nichts an.« Sie stand auf. »Lass uns gehen!«
Er blieb sitzen. »Für mich fühlt er sich an wie jeder andere Finger.«
Sie ging einfach weiter. Diese Mal würde sie ihm nicht auf den Leim gehen. Sie drehte den Kopf und rief über die Schulter: »Hast du Angst, dass ich mit dem Finger als Hure weniger wert wäre?«
Er sprang auf und rannte hinter ihr her, blieb dann dicht vor ihr stehen und zwang sie so, stehen zu bleiben.
»Rosa, es tut mir wirklich leid, was ich im Boot gesagt habe. Bitte verzeih mir.« Er griff wieder nach ihrem sechsten Finger, führte ihn an seine Lippen und küsste ihn.
Rosa durchrieselten kalte Schauer. Sie wollte weglaufen, und sie wollte, dass er den Kuss wiederholte. Unwillkürlich sah sie sich um, aber es war niemand hier, nur ein paar Vögel und weiter draußen die Pinguine.
»Du bist etwas ganz Besonderes, das habe ich schon gewusst, als ich dich das erste Mal in Nürnberg gesehen habe. Aber ich habe doch all diese Pläne …«, murmelte er und küsste jetzt ihre Handinnenfläche bis hin zum Gelenk.
Rosa atmete schneller. Immer noch wusste sie nicht, was sie wirklich wollte. Er hob den Kopf und sah ihr in die Augen, sein Blick wieder lebendig schäumendes Grün, wild und beängstigend.
Rosa wich zurück. Er zuckte mit den Schultern. »Rosa, Rosa, Rosa«, flüsterte er so leise, dass sie es in der lauten Brandung und dem pfeifenden Wind kaum hören konnte. Dann legte er die Arme um sie und streichelte ihr sachte über den mittlerweile nicht mehr ganz kahlen Kopf, über das Kinn hin zum Hals und fuhr schließlich mit der Hand unter ihr Hemd und umfasste eine ihrer Brüste, als wäre sie zerbrechlich und kostbar.
Seine raue Hand kitzelte Rosa, löste in ihr den Wunsch aus, sich enger an ihn zu pressen, doch gleichzeitig wurde sie starr. Die Kerle vom Brenner drängten sich vor ihr inneres Auge, und obwohl Luis doch so vollkommen anders, so zärtlich war, stieg die Erinnerung an all die Schmerzen in ihr
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