Die Hexengabe: Roman (German Edition)
der Seite.
Luis gab im Schlaf seltsam wimmernde Töne von sich. Rosa fragte sich, welche Gespenster ihn in seinen Träumen heimsuchten, und hätte ihn gern beruhigt, doch sie konnte es nicht riskieren, die Ruder zu verlieren.
Ihre Hände schmerzten, an der rechten bildeten sich schnell Blasen. Rosa biss die Zähne zusammen und ruderte weiter. Sie wunderte sich, dass ihr sechster Finger dabei nicht im Weg war, sondern im Gegenteil, es kam ihr so vor, als wäre in der linken Hand viel mehr Kraft als in der rechten.
Während die Sonne auf ihren Kopf brannte, waren Rosas Füße eiskalt, weil sie in dem Wasser standen, das sich auf dem Boden des Bootes gesammelt hatte. Verbissen ruderte sie weiter. Sie würde es schaffen. Ihr Magen knurrte laut, ihre Zunge klebte trocken am Gaumen, aber sie wollte keinen Gin vergeuden, schließlich wusste sie nicht, wie lange es noch dauern würde, bis Land in Sicht käme. So ruderte sie unentwegt, hatte aber den Verdacht, dass der Wind alle ihre Bemühungen zunichtemachte.
Als es dunkel wurde, zog Rosa die Ruder schließlich ein und ließ das Boot treiben. Sie versuchte, ihre Schultern und Arme zu lockern, ohne das Boot zum Kentern zu bringen. Luis schlief immer noch. Vielleicht wäre es besser, ihn zu wecken, vielleicht konnte er sich anhand der hell leuchtenden Sterne, die über ihnen aufgegangen waren, orientieren?
Der Wind hatte sich mit dem Hereinbrechen der Nacht gelegt, sodass das Boot nur noch sanft auf dem Wasser schaukelte. Rosa konnte auf der nahezu glatten Wasseroberfläche sogar die Spiegelung der Sterne erkennen. Das Kreuz des Südens.
Luis’ Kreuz! Plötzlich fiel ihr wieder ein, wo sie es schon einmal gesehen hatte. Auf den merkwürdigen Stichen ihres Vaters war ein solches Kreuz auf dem brennenden Handschuh gewesen. Was hatte ihr Vater damit sagen wollen?
»Luis!«, rief sie, und noch einmal: »Luis!« Sie musste wissen, was das zu bedeuten hatte. »Luis!« Er rührte sich nicht, und sie war zu müde, um ihn zu rütteln und zu wecken. Die Muskeln in ihren Armen brannten, und ihr Rücken lechzte nach einer Pause. Sie überlegte eine Weile, dann entschied sie, dass es in Ordnung wäre, sich auch hinzulegen, und obwohl es nass und unbequem war und sie große Angst davor hatte, sich dem Meer so schutzlos auszuliefern, schlief sie beinahe sofort ein.
34. Kapitel
A uch zwei Tage später wurde Rosa morgens wieder als Erste wach, und wie schon gestern und vorgestern ging gerade die Sonne rot über dem Meer auf.
Gestern hatte sie das noch als gutes Omen für ihre baldige Landung genommen, heute fand sie, dass der tiefrote Ball das Wasser in Blut verwandelte. Beim Hochsteigen der Sonne glitzerte das Meer kalt und kupfern, metallisch wie die Platten, die ihr Vater gestochen hatte. Danach wurde das Wasser wieder blasser, schließlich grau, und erst wenn die Sonne hoch oben am Himmel stand, mischte sich Blau in die Farbe des Wassers.
Rosas Kopf dröhnte und hämmerte bei jeder Bewegung, obwohl sie vorgestern noch mit Siranushs Dolch Fetzen von ihren Hemden abgeschnitten und um ihre Köpfe gewickelt hatten, um sich wenigstens etwas vor der Sonne zu schützen. Doch ihre Nasenrücken waren von der Sonne längst rot verbrannt, und die Haut schälte sich.
Der Wind wurde langsam stärker und brachte das Boot ins Wanken. Ich muss wieder losrudern, dachte sie und legte seufzend ihre wunden Hände an die Ruder. Das stach, als ob sie ihre Hände fest um einen Igel gedrückt hätte. Sie zuckte zurück. Es ging einfach nicht.
Mit einem lauten Schrei erwachte Luis und schreckte hoch. Der Kahn schwankte stark. Rosa hatte Mühe, die Ruder festzuhalten.
»Luis, beruhige dich!« Die schwarzen Bartschatten in seinem Gesicht verliehen ihm ein müdes und hageres Aussehen.
»Ich bin die Ruhe selbst. Ich könnte zwar einen Ochsen fressen und ein Fass Wein aussaufen, aber ich fühle mich wieder voller Kraft. Lass mich weiterrudern!«
»Du hast gerade geschrien, und zwar laut.«
»Ist das ein Wunder? Ich hatte Albträume, und die kommen sicher von meinem Magen, denn der ist leerer als leer. Schließlich hat der Profos dem Nichtstuer von Pfaffen die letzten Wochen über noch weniger zugestanden als dir.«
»Deine Hände sehen noch übler aus als meine, vielleicht sollte doch lieber ich weitermachen. Erzählst du mir jetzt, wo du herkommst und wohin du willst?«
»Warum warst du denn in Männerkleidern unterwegs?«
»Warum warst du als Missionar auf der Amalberga
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