Die Hexengabe: Roman (German Edition)
und sah Rosa stolz in die Augen.
»Aber es war doch nicht deine Schuld. Was ist denn das für eine Liebe?«
»Davon verstehst du nichts.«
»Wer …« Rosa wagte kaum, es auszusprechen, wagte kaum, es sich vorzustellen, aber sie wollte es trotzdem wissen. Sie holte tief Luft, doch dann drängten sich die Bilder der Mörder vom Brenner wieder vor ihre Augen. Wenn nun so einer ihr Vater wäre? Auch dann, so ermutigte sie sich, auch dann muss ich es wissen.
»Mutter, weißt du, wer mein Vater ist?«
Die Augen ihrer Mutter füllten sich mit Tränen. Rosa kniete sich vor ihren niedrigen Schemel, zog sie fest an sich, und ihre Mutter ließ es geschehen. Rosas Herz trommelte voller Angst. Ihr Vater war ein Schwein, und trotzdem wollte sie wissen, wie er hieß.
»Ja«, flüsterte ihre Mutter. »Ja, ich weiß, wer dein Vater ist. Aber ich habe es nur dem Zapf erzählt, denn er wollte kein Geld für die Heirat mit mir, sondern allein die Wahrheit. « Sie atmete schwer. »Heute denke ich, es war vielleicht doch ein Fehler, es Dobkatz nicht zu sagen. Denn sein Hass sollte sich auf ihn richten. Nicht auf mich oder dich.«
»Dann kennt Dobkatz diesen Mann?«
»Es war sein Vater.«
Die Tür wurde vom Wärter aufgestoßen. »Die Zeit ist jetzt um, ihr Turteltäubchen.«
Rosas Beine zitterten, als sie sich erhob, sie taumelte, fühlte sich, als hätte man ihr mit einem Holzprügel den Schädel eingeschlagen. Einen Vergewaltiger zum Vater, dröhnte es durch ihren Kopf, und nicht irgendeinen Kerl, nein, der Vater von Dobkatz, dieses miese Schwein war auch ihr Vater.
56. Kapitel
S ie stolperte zum Wagen, an den Leuten vorbei, die sich neugierig um Arevhat und Kaspar geschart hatten, und ließ sich wortlos neben sie fallen.
Arevhat schnalzte mit der Zunge, um das Pferd in Trab zu versetzen.
Wie betäubt saß Rosa auf dem Kutschbock und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.
»Ich …«, begann sie, »ich …«
Arevhat legte ihre Hand auf Rosas Arm. »Mir musst du nichts erklären.«
»Es ist viel schlimmer als alles, was ich mir je hätte vorstellen können.«
Kaspar zwängte sich neugierig zwischen die beiden Frauen und fragte Arevhat etwas.
Rosa betrachtete Kaspar nachdenklich. Sie war mit ihrem Neffen nicht einmal verwandt. Dorothea stammte aus der ersten Ehe ihres Vaters. Aber immerhin hatte sie den rechtmäßigen Erben ihres Vaters nach Hause gebracht. Ihres Vaters?
Bozen, Verona, Venedig, die Kapverden, das Kap der Guten Hoffnung und schließlich Masulipatnam und Orukal, alles für ihren Vater, der nicht ihr Vater war, also alles für nichts!
Nichts.
Warum hatte ihr Vater nicht den Mut gehabt, ihr die Wahrheit zu sagen? Wenn sie nur einmal von ihm selbst gehört hätte: Ja, du bist nicht meine leibliche Tochter, und doch liebe ich dich wie mein eigenes Kind. Er hatte ihre Mutter schützen wollen, aber was war mit ihr?
Sie spürte Arevhats Wärme, atmete den Geruch nach Milch und Kind ein, der den rotblonden Haaren von Kaspar entstieg.
War das wirklich nichts? War es nicht großartig, dass sie dieses Kind nach Hause geholt hatte, bevor man es zum Eunuchen hatte verstümmeln und für immer zum Sklaven hatte machen können?
War es nichts, Dorothea noch einmal gesehen zu haben? War es nichts, Luis geliebt zu haben?
Tränen strömten ihr übers Gesicht.
Arevhat und Kaspar starrten sie fragend an.
»Wohin jetzt?«
Rosa versuchte ruhiger zu werden und gab Arevhat Anweisungen, wie sie fahren sollte.
So konnte sie nicht vor den Rat treten. Sie schniefte und versuchte langsam und tief zu atmen.
Sie ließen das Heilig-Geist-Spital linker Hand hinter sich und fuhren in Richtung Fleischerbrücke, von dort wandten sie sich nach rechts zum Hauptmarkt. Rosa betrachtete all die Fachwerkhäuser, die prächtigen Bürgerhäuser mit ihren rosettenverzierten Chörlein, den Schönen Brunnen, dessen Wasser in der Sonne hell aufblitzte, und es kam ihr so vor, als würde sie alles zum ersten Mal sehen.
Kaspar wollte am Schönen Brunnen haltmachen und klatschte entzückt in seine dicken Patschhändchen.
»Schön!«, sagte er, endlich einmal wieder ein deutsches Wort. »Mama hat erzählt, so sieht der Brunnen aus, der die kleinen Kinder bringt.«
Arevhat sah Rosa und lächelte. Doch Rosa konnte das Lächeln nicht erwidern. Was sollte sie mit ihrem neu erworbenen Wissen nun tun?
»Wir sind da, dort drüben ist das Rathaus.«
Arevhat starrte auf die Sebalduskirche und nickte zustimmend. Unter anderen Umständen
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