Die Hexengabe: Roman (German Edition)
Mutter sprechen und danach den Rat aufsuchen.«
»Sie wird sich sträuben. Vielleicht sollte ich lieber zuerst zum Rat und dann mit der frohen Kunde zu ihr. Das wird ihre Zunge lockern.«
Ein Geräusch drang an Rosas Ohren, fragend wandte sie sich an Toni.
»Die Zwillinge. Sie sind krank. Sehr krank. Wir waren schon lange nicht mehr in der Lage, einen Arzt zu bezahlen.«
Rosa konnte nicht fassen, dass sie nicht gleich an ihre Schwestern gedacht hatte. Sie rannte die Stiege hinauf zu ihnen.
Eva lag auf dem Bett, Maria saß vor ihr und erzählte ihr mit zittriger Stimme eine Geschichte.
Es war die Geschichte von den sieben Eiern, die Dorothea ihnen immer erzählt hatte. Die beiden waren so vertieft, dass sie Rosas Kommen gar nicht bemerkt hatten.
»Und dann …«, fuhr Rosa fort.
Eva und Maria drehten sich zu ihr, starrten sie an. Bei Maria wusste man immer noch nicht genau, wohin sie blickte. Plötzlich durchzuckte die Erkenntnis ihre beiden schmalen Gesichter. »Rosa!«
Maria lief zu ihr und legte ihre schmächtigen Ärmchen um sie. »Rosa, du siehst ja aus wie eine Königin!«
Eva setzte sich auf, musste aber von der Anstrengung dermaßen husten, dass Rosa zusammen mit Maria zu ihr eilte, sich neben sie kniete und sanft umschlang.
»Wir haben nie geglaubt, dass du tot bist. Mutter hat es auch nicht geglaubt. Wir waren sicher, dass du zurückkommen würdest«, wisperte Eva.
»Und hast du Kaspar mitgebracht?«, wollte Maria wissen.
»Ja, ich habe ihn gefunden. Wir holen Mutter aus dem Turm zurück und bleiben hier wohnen, dann werdet ihr gesund, und alles, alles wird gut werden«, flüsterte Rosa, und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Eva sah sterbenskrank aus. Ihr Kopf wirkte viel zu groß für den schmächtigen Körper, der nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien. »Und, Eva, wir werden einen Arzt finden, der dich heilen kann.« Sie strich über ihre Wange, die sich kühl anfühlte. Gut, dann hatte ihre Schwester wenigstens kein Fieber.
»Ich werde mich umziehen und dann zum Rat fahren und Mutter wieder mitbringen. Kaspar werdet ihr später kennenlernen und auch Arevhat, eine Freundin, die ich aus Indien mitgebracht habe.«
»Eine indische Prinzessin?«, flüsterte Eva. »Ich möchte so gern eine indische Prinzessin sehen, bevor ich sterbe.«
»Eine wunderschöne indische Prinzessin.« Und Rosa nahm sich vor, dafür zu sorgen, dass Arevhat ihren schönsten Sari trug, wenn sie Eva besuchte.
»Aber nun muss ich mich beeilen, um dem Rat nicht noch mehr Gründe zu liefern, Vaters Betrieb zu schließen.«
Rosa wäre viel lieber bei ihren Schwestern geblieben. Sie kamen ihr so schwach vor, als ob jeder Moment mit ihnen genutzt werden sollte, aber die Zeit drängte.
Sie stürmte die Stiege wieder hinab. »Arevhat, hol Kaspar rein. Toni, du musst uns helfen, wir wollen uns so prächtig ausstaffieren, dass alle uns ansehen müssen. Auch Kaspar.«
»Ich wüsste wirklich nicht, was ich lieber täte!« Toni klatschte in die Hände. »Das ist der vielleicht schönste Tag in meinem Leben. Ich werde gleich Wasser heiß machen!«
Arevhat brachte den völlig verschlafenen Kaspar ins Haus, wo er sich misstrauisch umschaute.
Als ihn Toni herzhaft umarmen wollte, zuckte er zurück, begann zu weinen und rannte zu Arevhat, um sich trösten zu lassen.
»Er hat die Haare von seiner Mutter«, sagte Toni, »aber sonst wirkt er ganz wie ein Wilder.« Sie beäugte seine Pajamas mit Widerwillen. »So läuft doch kein Christenmensch herum. Ihr solltet ihn für den Rat lieber in ordentliche Kleider stecken. Arevhat kann wie eine indische Prinzessin aussehen, aber der Junge soll der würdige Erbe deines Vaters sein.«
»Das wird nicht einfach werden.« Rosa und Arevhat sahen sich an. »Toni hat recht«, meinte Rosa. »Wir müssen ihn in Hosen und in ein Hemd mit Weste stecken, und vor allem braucht er ordentliche Schuhe.«
»So viel Zeit haben wir nicht, oder?« Arevhat schüttelte den Kopf. »Schau ihn dir an, er ist noch ein Kind und seit dem Tod seiner Mutter vollkommen durcheinander. Es ist doch gleichgültig, was er trägt. Wir sollten ihn in Frieden lassen.«
Toni wackelte skeptisch mit dem Kopf. »Der arme Wurm tut mir von Herzen leid, aber die Leute hier sind, wie sie sind.«
»Wir riskieren es.« Rosa seufzte. »Wir haben in der Tat keine Zeit, ihm jetzt noch passende Schuhe zu besorgen. Wir sollten noch vor dem Mittagsläuten im Rat sein und vorsprechen.«
Alle nickten. Kaspar hatte sich beruhigt und
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