Die Hexengabe: Roman (German Edition)
Kopf geschüttelt. »Gold steht erst an zweiter Stelle. Wenn du aber keine Familie mehr hast, was bleibt dir dann noch? Natürlich ist man ohne Geld ein Niemand. Doch verwechsle nie erste und zweite Stelle, Carlo!«
»Dann sind wir also deine Familie?« Carlos halber Mund grinste spöttisch.
»Was willst du damit sagen?«
»Du hast uns so lieb, dass du uns gar kein Geld gibst.«
Rosa musste grinsen, denn Siranush ließ niemanden auch nur in die Nähe ihres mittlerweile prallvollen zweiten Beutels.
»Du Unverschämter!« Siranush schlug mit ihrem Arm gegen Carlos Brust, wobei ihre Armreife aufgeregt hin und her klimperten. »Wer kleidet dich, wer nährt dich, wer wärmt dich, und wer gibt dir ein Dach über dem Kopf?«
»Du.« Carlo packte Siranush und wirbelte sie einmal um sich herum. »Aber was ist, wenn dir morgen ein anderer besser gefällt? Dann wirst du dich um den kümmern. Und was wird dann aus mir?«
»Einen Hässlicheren als dich gibt’s gar nicht, also rede kein dummes Zeug. Wenn ich dir Geld gebe, trägst du’s ins Wirtshaus, und da darfst du hier nicht hin, weil du stumm bleiben sollst. Das kommt erst wieder infrage, wenn wir in Trient angekommen sind.«
»Und Rosa?« Carlo ließ nicht locker.
»Rosa will nach Indien, da benötigt sie dermaßen viel Geld, soll sie froh sein, wenn ich’s für sie zusammenhalte. Und jetzt hoch auf den Karren!«
Heute waren die Bauern aus dem Umland gekommen, weil Geflügelmarkt war, sodass noch mehr Menschen als sonst zwischen den Ständen herumstreunten.
Rosa war schon völlig erschöpft, als sie am Nachmittag ein leises Heulen wahrnahm. Es wurde lauter und lauter, breitete sich über dem Markt aus, kam näher und näher, und dann erkannte Rosa das Wehgeschrei von Klageweibern, die mit einem kleinen Sarg über den Markt zogen, geradewegs auf sie zu.
»Vielleicht wollen sie wissen, ob ihr Kind in den Himmel oder in die Hölle kommt«, flüsterte ihr Carlo breit grinsend hinter vorgehaltener Hand zu, was Siranush mit einem bösen Blick quittierte.
Doch Rosa wusste sofort, wer in diesem Sarg lag und wer die Frau war, die da tief verschleiert zu ihr wollte. Es war die junge Frau, die sich wie eine Greisin bewegt hatte und die sich jetzt, umgeben von zwanzig Klageweibern, den Weg zu ihr bahnte.
»Was zur Hölle …«, murmelte Siranush und flüsterte Carlo zu, »… mach den Karren bereit! Das hier sieht so aus, als müssten wir vielleicht rasch das Weite suchen.«
Carlo erhob sich, stieg vom Karren und legte dem Pferd das Geschirr an.
Rosa überlegte verzweifelt, was sie tun sollte. Sie hatte so sehr gehofft, dass das Kind erst tot geboren werden würde, wenn sie längst die Stadt verlassen hatten. Sie hätte die Frau nicht anlügen sollen.
Das Klagen der Weiber hatte das lärmende Treiben der Messe fast ganz zum Erliegen gebracht, eine erwartungsvolle Stille breitete sich aus. Der Trauerzug kam direkt vor dem Engel der Wahrheit zum Stehen.
»Die da«, die junge Greisin deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Rosa, »die da hat meinen Sohn verhext!«
Rosa zuckte zusammen. Dass man sie der Lüge bezichtigen würde, ja, das hatte sie erwartet, aber nicht so eine Anklage.
Die Frau war rot im Gesicht vor Zorn. »Ich war bei dieser Hexe da, weil ich, Gott sei mir gnädig, wissen wollte, ob er diesmal geruhen würde, mir einen Sohn zu schenken, was dieses Weib bejaht hat. Aber dann hat sie mein Kind im Bauch in ein Mädchen verhext, und deshalb ist es gestorben.« Die anderen Weiber brachen in Klagen aus.
»So ein Unsinn!«, ließ sich Siranush vernehmen. »Warum sollte dieser Engel des Lichts und der Wahrheit so etwas Böses tun?«
»Weil sie die Seele des Kindes als Tribut an den Teufel zahlen muss! Denn, Leute«, die Frau wandte sich an die Masse und brüllte geradezu, »niemand außer Gott kann sagen, ob jemand lügt oder nicht, oder ist es nicht so?«
Die Angst krampfte Rosas Herz zusammen, trotzdem verstand sie die Frau. Die Enttäuschung hatte all deren Gefühle in Wut verwandelt.
Siranushs Augen flehten Rosa an, ruhig und gelassen zu bleiben. »Da habt Ihr recht«, predigte sie, »nur Gott kann das. Doch Gott ist groß und lässt uns immer wieder an Wundern teilhaben.« Siranushs ruhige und bestimmte Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Zustimmendes Gemurmel breitete sich über dem Markt aus.
Rosa bewunderte Siranush, aber die hatte auch keinen Hexenfinger, und plötzlich fiel ihr die Mutter ein, die ihr immer und immer wieder eingebläut
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