Die Hexengabe: Roman (German Edition)
beschloss, den Rock auf dem Pferderücken auszuziehen und dann zurückzureiten. Sie arbeitete sich unter die Schichten ihres Kleides vor, bis sie an dem Band angelangt war, das den Reifrock zusammenhielt, und löste es. Dann hob sie ein Bein über den Hals des Pferdes, damit beide Beine auf einer Seite waren. Dazu benötigte sie mehrere Anläufe, denn der Stoff des Kleides lag tonnenschwer auf ihren Schenkeln. Als sie es endlich geschafft hatte, schob sie den Reifrock unter ihrem Po durch, dabei hielt sie, am ganzen Körper zitternd, die Zügel mit einer Hand fest. Endlich rutschte das Ding herunter, wurde aber sofort von dem kräftigen Wind erfasst und blähte sich zu einem abstrusen ballonartigen Gebilde auf, das durch die Luft wirbelte.
Verblüfft starrte Rosa diesem merkwürdigen Ballon hinterher, bis er in sich zusammenfiel und in ein Gebüsch am Wegrand stürzte. Sie wandte sich dem Pferdehals zu, und gerade als sie die Zügel wieder in der Hand hielt, hörte sie merkwürdiges Brummen und Summen: Hunderte von Wespen entstiegen dem Gebüsch, aufgescheucht durch den abgestürzten Reifrock. Sie flogen und schwirrten geradewegs auf Rosa und das Pferd zu. Das Pferd machte einen Satz, der Rosa fast zu Fall gebracht hätte. Sie schaffte es eben noch, sich an der Mähne festzukrallen, bevor es losgaloppierte, als wäre der Teufel selbst hinter ihm her. Doch die Wespen blieben dicht hinter ihnen, ihr Brummen vermischte sich mit den klappernden Hufen, dem Schnauben des Pferdes und Rosas verzweifeltem Bemühen, das Pferd zu beruhigen.
Das Pferd raste weiter weg von Bozen, immer weiter. Rosas Beine schafften es nicht mehr, sich an die schweißnassen Flanken zu pressen, ihre Hände vermochten die Zügel kaum noch zu halten. Das Pferd rannte wie von Sinnen über den holprigen Steingrund.
Plötzlich strauchelte es, galoppierte weiter, doch Rosa kam ins Ungleichgewicht und stürzte vom Pferd, das wie befreit noch schneller weiterstürmte.
Sie spürte den Aufprall, der durch ihr Mantelkleid etwas abgefangen und gemildert wurde. Es war gar nicht so schlimm, ich kann sogar wieder aufstehen, dachte sie und setzte sich auf. Das Brummen kam näher, eine dunkle Wolke hüllte sie ein, dann spürte sie, wie sich viele kleine scharfe Nadeln in ihr Gesicht bohrten, danach verschwamm alles um sie herum.
Jemand schüttete ihr eiskaltes Wasser ins Gesicht. Wieder und wieder.
»Porca Madonna«, sagte einer, und ein anderer fügte auf Deutsch hinzu: »Diese Biester haben ihr Gesicht übel zugerichtet!«
Rosa versuchte, ihre Augen aufzuschlagen, aber das war nicht möglich. Ihr Herz begann zu rasen. Sie war doch nicht etwa von dem Sturz blind geworden? Ihre gesamte Rückseite schmerzte, aber das war nicht so schlimm wie das Gefühl in ihrem Gesicht, das brannte und spannte. Sie befühlte ihre Augen: Völlig zugeschwollen, aber ganz anders als nach dem Überfall am Brenner. Alles war heiß und klopfte und drückte auf ihre Augäpfel. Und jetzt stand da jemand, den sie nicht sehen konnte.
»Wer seid Ihr?«, fragte sie.
»Der grüne Mann vom Teufelsjoch«, antwortete eine männliche Stimme, die ihr bekannt vorkam, doch sie ging im dröhnenden Gelächter mehrerer Männer unter.
Rosa versteifte sich. Männer, denen sie ausgeliefert war, die sie anstarren konnten! Sie griff nach ihrer linken Hand. Das Leder des Handschuhs fühlte sich verschrammt an, doch die einzelnen Finger waren noch intakt. Dann tastete sie nach ihrem Rock, er bedeckte ihre Beine. Sie würde eher sterben, als noch einmal einen Mann über sich zu ertragen.
»Wer seid Ihr?«, fragte sie erneut und legte alle Kraft hinein.
»Wir sind Flößer und haben gesehen, wie dein Pferd auf dem Damm durchgegangen und du gestürzt bist. Wir haben gewettet, ob du noch lebst, und daher mussten wir von unseren Flößen steigen und nachschauen.«
Die Männer lachten. Rosa spürte, wie sich Angst heiß in ihrem Körper ausbreitete. Reiß dich zusammen!, befahl sie sich.
»Und jetzt, wo Ihr’s wisst, wollt Ihr mich so liegen lassen?«
Betretenes Schweigen. »Na ja, was sollen wir tun? Wir müssen unser Holz heute noch weiter nach Sacco bringen«, sagte die Stimme, die ihr wieder bekannt vorkam.
»Wo sind wir jetzt, und wo ist Sacco?«
»Wir sind nahe bei Branzoll, südlich von Bozen, und von dort flößen wir das Holz über Sacco und Parona bis nach Verona.«
»Seht Ihr nicht, dass ich wie blind bin? Wie soll ich denn hier weg?«
»Sind nur Wespenstiche, das schwillt wieder ab«,
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