Die Hexengabe: Roman (German Edition)
schon dachte, sie wäre vielleicht eingeschlafen. Da fuhr diese fort: »Ich habe sie nicht mehr wiedergesehen.« Siranushs Stimme hatte zu zittern begonnen, doch dann holte sie tief Luft und sagte mit gewohnt kräftiger Stimme: »Und das, obwohl ich den verfluchten Eunuchen dermaßen viel Geld in die Hosen geschoben habe, dass ihnen eigentlich Schwänze aus Gold hätten wachsen müssen.« Sie kicherte.
Rosa war nicht ganz klar, was genau Eunuchen waren, nahm aber an, dass es Wachen sein mussten. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Siranush hatte alles verloren, was sie geliebt hatte, und doch hatte sie es geschafft weiterzuleben, konnte sogar wieder kichern.
»Du siehst also, Achtschigges, es ist immer besser, zu früh zu handeln als zu spät. Und die Männer, die dir das angetan haben, gehören in die Hölle. Die Kerle, die meine Tochter raubten, habe ich alle erwischt, jeden einzelnen. Ich habe sie erst zu Eunuchen gemacht und ihnen dann die Kehle durchgeschnitten. Ihr Blut hat die Erde getränkt, shad lav! Und jetzt schlaf endlich, damit du den Leuten morgen früh verraten kannst, ob sie lügen.«
Unwillkürlich griff Rosa an ihren Hexenfinger, der sich während Siranushs Erzählung kein einziges Mal gerührt hatte.
»Gute Nacht«, murmelte Rosa, zögerte einen Moment, dann setzte sie sich auf, rutschte zu Siranush hin und küsste deren ledrige Wangen rechts und links, was sie bei ihrer eigenen Mutter niemals gewagt hätte.
Siranush starrte sie verblüfft an, dann ging ein Lächeln über ihr Gesicht. »Du bist nicht Arevhat und wirst es niemals sein können, aber auch du bist meine Tochter. Und jetzt schlaf!«
Rosa war froh, dass Siranush sofort die winzige Laterne löschte, denn ihre Augen schwammen in Tränen, was Siranush sicher nur wieder zu einem Kopfschütteln veranlasst hätte. Im Dunklen dachte sie an ihre Aufgabe. An ihren Plan, Kaspar nach Hause zu holen. Nach allem, was Siranush ihr gerade erzählt hatte, erschien es ihr vollkommen unmöglich, die Armenierin einfach bei nächster Gelegenheit zu verlassen. Rosa musste mit ihr darüber reden. Vielleicht hatte Siranush ja eine Idee, wie sie die verlorene Zeit wieder einholen konnte.
Was wohl ihr Vater zu Siranushs Geschichte gesagt hätte? Was für ein merkwürdiges Land dieses Armenien doch war. Rosa konnte sich nicht vorstellen, dass ein solches Unrecht in Nürnberg überhaupt passieren konnte. Da wären die fünf Reiter vielleicht gar nicht erst in die Stadt hineingelassen worden. Und dann stellte sich Rosa vor, wie es wäre, wenn der ehrwürdige Rat der Stadt Nürnberg einen Harem hätte, und dieser Gedanke ließ sie mit einem Lächeln auf den Lippen einschlafen.
18. Kapitel
I n den nächsten Tagen war Rosa ständig angespannt, weil sie fürchtete, einer der Räuber würde sie erkennen und ihr dann auflauern. Zwar hatte Carlo ihr versichert, dass es niemand riskieren würde, sie auf offener Straße zu töten, doch das änderte nichts an ihrer Angst.
Aber nachdem über eine Woche nichts passiert war, sondern stattdessen nur Kunden kamen, die wissen wollten, ob ihre Mitmenschen sie betrogen oder nicht, begann sie sich etwas zu entspannen. Mittlerweile fand sie es auch nicht mehr so schlimm, herausgeputzt als Engel der Wahrheit auf dem Karren zu sitzen. Nicht mal die Prozedur, mit der ihr Haar auftoupiert und hochgesteckt und mit glitzernden Kämmen verziert wurde, machte ihr noch etwas aus. Sie fand es nur weiterhin komisch, dass Carlo sie frisierte und nicht Siranush. Die fand, Carlo sei für derlei Dinge begabter als sie selbst. Und wenn Rosa in Carlos gesunder Gesichtshälfte das Lächeln sah, mit dem er seine Arbeit abschließend begutachtete, und später die beeindruckten Blicke der Leute auf sich spürte, dann wusste sie, dass Siranush einmal mehr recht behalten hatte.
Seit zwei Tagen war es endlich kühler geworden, ein heftiger Wind hatte die sonst so drückend über Bozen klebenden Wolken beiseitegeschoben, und nun leuchtete der Himmel in einem strahlenden Türkisblau über ihnen.
Nachdem Siranush ihr die Geschichte von Arevhat anvertraut hatte, fasste sich Rosa ein Herz und erzählte Siranush flüsternd, warum sie nach Indien unterwegs war. Die Armenierin hatte sie zu ihrem Plan beglückwünscht, denn Familie sei das Wichtigste im Leben und es gäbe nichts Wichtigeres.
»Außer Gold vielleicht!«, hatte Carlo, ebenfalls flüsternd, eingeworfen und auf die vielen Armreife und Ketten von Siranush gezeigt.
Die hatte nur den
Weitere Kostenlose Bücher