Die Hexengabe: Roman (German Edition)
hatte, besonders sie müsse stets die Wahrheit sagen.
»Von wegen Wunder!«, rief da eine Stimme, die Rosa unter Millionen Menschen wiedererkannt hätte. Sie suchte hektisch mit den Augen die Person, die diese Worte geäußert hatte, ihr Herz, das ohnehin schon aufgeregt gepocht hatte, begann zu rasen, und ihre Haut wurde feucht.
»Von wegen Wunder, lasst Euch nicht einlullen! Das Weib da ist eine Hexe, und ich werde es beweisen. Lasst mich zu Ihr. Lasst mich durch.«
Die Klageweiber bildeten eine Gasse und ließen den Mann hindurchgehen.
Als Siranush ihn erspäht hatte, lachte sie. »Da bin ich gespannt, was uns dieser ausgesucht feine und kluge Edelmann zu sagen hat! Vielleicht ist er gar ein Hexenjäger unserer heiligen Kirche. Doch wenn ich ihn so recht betrachte, dann sieht er mir eher nach einem Wilderer aus!« Sie erzielte einige Lacher, weil das Äußere des Räubers wirklich sehr unheilig wirkte. Wams, Hemd und Hose waren voller Wein und Schmutzflecken, er trug einen langen, verfilzten Bart und verbreitete einen unangenehmen Geruch.
»Reiß dich zusammen, du siehst schuldig aus«, wisperte Siranush Rosa zu. Deren Beine zitterten, plötzlich spürte sie wieder alle Wunden, die der Dreckskerl ihr zugefügt hatte, den Druck von Giacomo auf ihrem Leib, hörte den Geier picken. Plötzlich wünschte sie sich den Dolch, und dieses Mal würde sie zustoßen, tief in das Herz dieses Kerls.
»Ich sage Euch, dieser Engel der Wahrheit ist eine Metze des Satans, und ich werde es beweisen. Sie trägt sein Zeichen an ihrem Leib! Doch Ihr müsst sie halten, sonst reitet sie auf ihrem Besen davon.«
Das Publikum murmelte aufgeregt miteinander. Man war sich nicht ganz einig, was zu tun sei, doch dann rief die Mutter des toten Kindes: »Ja, helft einer verwaisten Mutter, rächt mein Kind!«
»Verdammt auch, wir müssen weg!« Siranush war dicht an Rosa herangetreten. »Steh auf, wirf dem Dreckskerl den Schemel ins Gesicht, und dann setz dich auf den Hintern. Carlo wird sofort lospreschen, es wird Unruhe geben, man wird uns nicht durchlassen wollen. Also halte dich gut fest, aber sag kein Wort. Sag um Gottes willen kein Wort!«
Rosa tat, was Siranush ihr befohlen hatte. Mit großer Lust schleuderte sie den Schemel in das Gesicht des Bärtigen. Und sie saß noch nicht ganz, da fuhr der Wagen schon mit einem kräftigen Ruck an. Sie wurde nach hinten geschleudert, konnte sich noch an einer Planenstange festhalten, aber dann ging es nur langsam durch das Marktgewimmel. Ihre Flucht wurde ihnen natürlich als Schuldeingeständnis ausgelegt, weshalb jetzt Rufe nach dem Büttel laut wurden.
»Schneller, schneller, schneller!«, kommandierte Siranush, was Carlo mit einem Brummen kommentierte.
Sie hatten schon mehrere Stände umfahren und näherten sich den Stadtmauern und dem Tor. Rosa atmete erleichtert aus. Wenn nicht noch jemand auf die Idee käme, das Stadttor zu verschließen, und das war am Markttag eher unwahrscheinlich, hatten sie es gleich geschafft.
»Nicht so trödeln, schneller!«
Sie rasten über das holprige Pflaster aus Bozen hinaus und dann am Fluss, neben der Etsch, entlang. Rosa glaubte sie schon in Sicherheit, als lautes Pferdegetrappel hinter ihnen ihre Hoffnung zunichtemachte. Sie und Siranush sahen sich an.
»Wir müssen ihn in einen Hinterhalt locken. Ich glaube nicht, dass gleich die ganze Kavallerie ausgerückt ist, nur weil einer behauptet hat, du seiest eine Hexe. Er wird alleine sein, schließlich hat er eine Rechnung mit dir offen. Carlo, lass uns den Teufelssteig benutzen.«
Der Reiter kam schnell näher.
»Schade, dass wir keine Flinte haben«, sagte Siranush. »Ich würde ihn mit Vergnügen abknallen.«
Wie ein Echo zu ihren Worten zischte eine Kugel an Rosas Bein vorbei.
»Flach hinlegen!«, kommandierte Siranush.
Sie legten sich platt auf den Karren, ein weiterer Schuss pfiff über ihre Köpfe hinweg. »Gut so, verschieß nur all dein Pulver«, murmelte Siranush.
Wie konnte sie angesichts dieser Lage so ruhig bleiben, fragte sich Rosa, die am ganzen Körper bebte und erwartete, dass der nächste Schuss sie niederstrecken würde. Doch der nächste Schuss ging hoch über ihre Köpfe.
»Nicht so einfach, sauber zu zielen, wenn man dabei galoppiert.« Siranush griff nach Rosas Hand. »Wie auch immer das ausgeht, versprich mir eins …« In diesem Augenblick brach der Karren unter ihnen zusammen.
»Verdammt!« Rosa und Siranush wurden zur Seite geworfen, ebenso die beiden Truhen, die auf
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