Die Hexengabe: Roman (German Edition)
stirnrunzelnd den Finger an die Lippen. »Vergiss nicht, du bist stumm. Das ist nur das Hussaus-Läuten.«
Rosa hob fragend ihre linke Hand, wagte es aber nicht zu sprechen.
»Hier in Bozen läuten um neun Uhr abends die Glocken, danach dürfen die Wirte nichts mehr ausschenken, und man darf nicht mehr ohne Licht auf die Straße gehen. Wenn wir weiter hier herumlaufen wollen, dann brauchen wir eine Laterne oder eine Fackel. Lass uns zurückgehen.«
Jetzt musste Rosa reden. »Nein, wir sollten das Wirtshaus beobachten. Wenn es nichts mehr zu trinken gibt, wird er doch gleich wieder herauskommen.«
»Schschschschsch! Vielleicht übernachtet er in der Wirtsstube.«
»Aber der Gedanke, dass er in Bozen ist und ich nicht weiß, wie er aussieht …«
»Du hättest ihn sofort töten sollen. Gott hat ihn direkt vor deine Nase geführt, und du hast gezögert. Jetzt lass uns gehen. Wenn uns jemand ohne Licht sieht, könnte uns das die Konzession kosten.«
Schweigend eilten die beiden zurück zum Karren, wo Carlo schon auf sie wartete.
»Wo wart ihr?«, schimpfte er. »Das könnt ihr doch nicht machen. Ihr solltet nachts nicht alleine durch die Straßen gehen.«
»Ein schwarzer Hund wird nie weiß«, stöhnte Siranush, »wie konnte ich nur glauben, dass ihr beide es schaffen würdet, zwei Wochen lang stumm zu bleiben.«
Rosa und Carlo warfen sich einen Blick zu. Siranush klang selten so ungehalten.
»Aber …«, begann Rosa, »… wie hätte ich dir das mit den Männern erklären sollen, ohne zu reden?«
»Shad lav, es ist gut. Wir werden das ändern, in Trient werdet ihr nicht mehr stumm sein, aber die nächsten Tage müsst ihr einfach durchhalten. Glaubt ihr, dass ihr das schafft?«
Die beiden nickten.
»Gut. Carlo, hör mir zu. Es gibt einen Mann, der nach Rosas Leben trachtet. Wir sollten darauf gefasst sein, dass er plötzlich am Karren auftaucht. Bitte sei bewaffnet und habe ein Auge auf sie.«
Carlo nickte und zwinkerte Rosa zu.
Rosa neigte ergeben den Kopf. Aber in ihrem Innersten brodelte es. Wie sollte sie ab jetzt als Engel der Wahrheit auf dem Karren stehen, wenn dieser Mörder jederzeit auftauchen konnte? Hätte sie wirklich mit dem Dolch aus dem Karren springen und ihm die Kehle durchschneiden sollen? Und was hätten sie dann mit der Leiche gemacht? Außerdem war da ja noch ein zweiter Mann dabei gewesen, dessen Stimme ihr nicht bekannt vorgekommen war.
Verstohlen beobachtete sie Siranush, die sich bis auf ihr Hemd und ihren Schmuck entkleidete und die Überkleider sorgfältig ablegte. Nie hatte Rosa bislang bemerkt, dass Siranush einen Dolch im Ärmel trug, und wieder dachte sie an die Narben auf ihrem Rücken. Aber sie wollte Siranush nicht verärgern, indem sie erneut sprach, also legte sie sich hin und versuchte zu schlafen.
17. Kapitel
S chweißgebadet erwachte Rosa, setzte sich auf und sah sich verwirrt auf dem Karren um. In ihrem Traum war sie ein Pferd gewesen, ein abgemagertes Pferd, das geschlachtet werden sollte … Allerdings hatte sie zwei Köpfe gehabt, einer hatte ausgesehen wie ihr richtiger Kopf, der andere wie der eines Mannes. Sie wusste sicher, dass sie diesen Mann schon einmal irgendwo gesehen hatte, aber wo? Wer war dieser Mann gewesen? Sie war panisch davongaloppiert, um nicht geschlachtet zu werden, und dabei war sie in einem grünen Moor gelandet, das sie schmatzend verschlang. Sie war aufgewacht, als der grüne Brei braun geworden und sie daran erstickt war.
»Achtschigges, du hast nur geträumt; hier bist du in Sicherheit. Alles, alles wird wieder gut … du wirst schon sehen.« Siranush setzte sich hinter Rosa, sodass sich Rosa an sie anlehnen konnte. »Für deine Seele wäre es gut gewesen, diese Männer zu töten. Ich bin sicher, wir werden sie wiedersehen, dann versprich mir, dass du nicht mehr zögerst.«
Rosa fand es sehr beruhigend, Siranush hinter sich zu wissen, und wollte gern, dass sie einfach weiterredete.
»Ich war nicht immer so hart. Aber ich habe gelernt, dass es nicht gut ist, zu lange zu zögern. Ich …«, Siranush sog tief die Luft ein, »… hatte auch einmal eine Tochter, und weil sie schon bei ihrer Geburt im Sommer so wunderschön blond war, haben wir sie Sonnenjungfrau genannt, Arevhat. Wir lebten friedlich in einem Dorf in der Nähe des Sevansees, der so groß ist, dass wir ihn ›das kleine Meer‹ nannten. Wir verdienten unser Geld damit, Heilerde zu suchen und zu verkaufen. Mein Mann hatte das Privileg, sie zu Münzen zu pressen.
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