Die Hexengabe: Roman (German Edition)
friedlich neben Siranush liegen und schlafen. Stattdessen ist Siranush tot.
Der Mann sah sie erwartungsvoll an.
Nein, sag’s ihm nicht.
»Glaubst du, dass deine Frau Geheimnisse vor dir hat?«
Der Mann wurde wieder rot, und Rosa dachte, wie elend es sein musste, wenn es einem nie gelang, seine Gefühle zu verbergen.
»Nein«, behauptete er, aber Rosa hätte auch ohne ihren sechsten Finger gewusst, dass er log. Auf einmal wusste sie, was sie ihm sagen konnte.
»Und damit liegst du richtig. Denn das war es, was sie gesagt und was ich als Lüge überführt habe: Ich betrüge meinen Mann. Sie betrügt dich nicht, hat es nie und liebt dich. Und ihr solltet mit eurem gegenseitigen Misstrauen nicht alles zerstören.«
Der Mann sagte nichts, stürzte stattdessen einen großen Becher Wein hinunter, und dann grinste er. Goss nach, trank wieder, dann seufzte er tief und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Du hast recht. Ich bin ein verliebter Trottel. Und jetzt bringe ich dich zu meinem Bruder, der wird dich nach Venedig mitnehmen, wo er eine Ladung Kapern zu dem Fondaco dei Tedeschi bringen muss.«
Rosa aß hastig ihren Teller leer, dann verabschiedete sie sich von Luisa und folgte dem Mann zu seinem Bruder, der ihr zerstochenes Gesicht zwar misstrauisch musterte, sich dann aber doch überreden ließ, sie mitzunehmen.
20. Kapitel
D as also war Venedig.
Rosa atmete das Parfum aus Salzwasser, Fisch, Unrat, gebrannten Mandeln, feuchtem Holz und verfaulenden Zitronen tief ein und war für einen Moment stolz, dass sie es trotz des Überfalls bewerkstelligt hatte, hierherzukommen.
Sie lauschte der Sinfonie aus Möwenjammern, Wasserplätschern und klappernden Füßen, die in Holzschuhen über die Rialtobrücke tappten, dem kreischenden Singsang der Händler und jenem seltsam klingenden Wind, der, vom Meer kommend, um die Paläste strich und dort zu einem Murmeln wurde, sanft wie das weit entfernte Echo eines Geschichtenerzählers.
Das also war Venedig. Wenn sie es so weit gebracht hatte, würde sie es auch nach Indien schaffen!
Sie stand vor dem Fondaco dei Tedeschi, am Fuße der Rialtobrücke, wo die deutschen Kaufleute auf Anordnung der Stadt Venedig einen eigenen Palast hatten, in dem ihre Waren gewogen, bewertet und kontrolliert wurden.
Hinter dem Fondaco ragte der Turm einer Kirche empor, San Bartolomeo, wie ihr der Bruder des Flößers verraten hatte.
Das Pellerhaus in Nürnberg war eine armselige Angelegenheit im Vergleich zu der Pracht, die sie hier an jedem Palast bewundern konnte, überall Bögen, die auf Bögen standen, Muster, Ornamente, goldene Verzierungen – und mittendrin saß sie auf einer Treppenstufe des Rialto, und niemand schenkte ihr Beachtung. Unter der Brücke fuhren schwer beladene Lastkähne, aber auch elegante schwarze Gondeln, deren spitze Enden in hochgezogenen, golden geschwungenen Verzierungen mündeten.
Sie hätte den ganzen Tag hier sitzen und schauen können, aber es war schon fast Abend, und sie wusste nicht, wo sie schlafen würde. Wie sie ohne Geld auf ein Schiff kommen sollte, war ihr auch noch vollkommen rätselhaft.
Im allerschlimmsten Fall könnte sie Siranushs Dolch verkaufen, doch viel lieber würde sie sich eine Arbeit suchen und ihre Überfahrt verdienen.
Man brauchte doch auf Schiffen sicher auch Köchinnen oder Mägde? Sie erinnerte sich nicht daran, was ihre Schwester dazu geschrieben hatte. Nur daran, wie schlecht Dorothea das Essen geschmeckt hatte.
Fürs Erste wollte sie herausfinden, wo die Familie von Giacomo lebte, denn sie hatte sich geschworen, den Knopf zurückzubringen und Giacomos Schwester zu erzählen, wie ihr Bruder gestorben war. Und dass er gezielt gemeuchelt worden sein musste. Sie konnte zwar nicht verstehen, warum man ihren Tod gewollt hatte, aber dass Baldessarini dahintersteckte und Giacomos Tod zu verantworten hatte, stand außer Frage. Sie erinnerte sich deutlich daran, wie klamm ihr Finger geworden war, als er damals in Nürnberg behauptet hatte, ein Ehrenmann zu sein, und sie hatte die Söldner darüber tuscheln hören, wie sehr Baldessarini seinen Schwager hasste.
Vielleicht konnte man ihr im Haus von Giacomos Familie helfen, wusste dort jemand, wie sie auf ein Schiff Richtung Indien gelangen konnte. Wenn seine Schwester nur halb so anständig war wie er, dann würde sie ihr weiterhelfen.
Rosa stand auf und fragte im Fondaco dei Tedeschi solange nach dem Palast von den Lontanos, bis sie jemanden fand, der ihr Auskunft geben
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