Die Hexengabe: Roman (German Edition)
sich herunter. Ihr ›Engel der Wahrheit‹-Kostüm hing schmutzig und teilweise vom Sturz zerrissen um ihren Körper, ihre blonden Haare waren grau von Staub.
»Ich meinte eher dein Gesicht.« Der Mann grinste.
Rosa befühlte ihre Wangen, Beule neben Beule. Sie brauchte einen Spiegel! Doch das seltsam grüne Wasser der Etsch war zu bewegt, um sich darin betrachten zu können. Plötzlich wusste sie, wo sie so ein Grün schon gesehen hatte: Der katholische Priester hatte genau solche Augen gehabt.
»Was ich dir sagen wollte, ist, dass du aussiehst, als hättest du die Beulenpest!«, erklärte der Mann weiter. »Es wird nahezu unmöglich werden, jemanden zu finden, der dich mit diesem Gesicht mitnimmt.«
Rosa ballte ihre Fäuste. Sie musste weiterkommen, jeder Tag zählte. Ihre Kehle wurde eng. Sie musste doch ihren Neffen nach Hause bringen. Und sie wollte Giacomos Tod rächen. Und was war mit Siranush und Carlo? Lebte Siranush noch? Würde man Carlo wegen Mordes hängen?
Plötzlich wurde der Mann vor ihr erneut so rot, als hätte man ihn mit Karmesin übergossen. »Nun, ich könnte dir helfen. Ein Vetter der Frau meines Bruders könnte dich nach Venedig mitnehmen, wenn ich ein gutes Wort für dich einlege. Er ist im Kaperngeschäft und bringt Fässer nach Venedig.«
Mittlerweile strömte das Wasser der Etsch wieder ruhiger dahin, und die anderen Flößer gesellten sich wieder zu ihnen. Sie übergossen den Mann mit reichlich Spott.
»Rot wie’n Fass Rotwein … eine Birne wie’n Haufen Kirschen … Pass nur auf, dass dein herrschsüchtiges Weib dich so nicht sieht …« Sie wieherten und schubsten sich gegenseitig, sodass einer beinahe ins Wasser gefallen wäre, wenn ihn die anderen nicht festgehalten hätten.
Als sie sich endlich wieder beruhigt hatten, fragte Rosa: »Und unter welchen Umständen würdest du ein gutes Wort für mich einlegen?«
Das brachte seine Kumpanen wieder zum Lachen.
»Na, was schon, du zeigst ihm dein Pfläumchen, da werden die guten Worte nur so sprudeln.«
»Darüber reden wir später, wenn wir in Verona und diese Tiere los sind.« Er wandte sich an die anderen Männer. »Und ihr Schwätzer, wenn ihr jetzt nicht sofort euer Maul haltet, werde ich dafür sorgen, dass es euch für immer offen steht. Also, hat noch einer was zu sagen?« Der Mann ballte seine Fäuste, was seine beachtlichen Armmuskeln zu kanonenkugelgroßen Bällen anschwellen ließ.
Daraufhin wurden die Stimmen der Männer leiser, und Rosa verstand nur noch einzelne Wortfetzen, die im Lachen der Männer untergingen.
»Beruhig dich, Mann … war doch nur’n Ulk … Der ist aus dem Sarntal, da sind sie so … die lachen nur einmal im Jahr.«
Und dann waren sie alle beschäftigt, das Floß durch die Brücken Veronas zu steuern.
Erst nachdem die Männer die Hölzer in Verona abgeliefert hatten und entlohnt worden waren, wandte der Flößer Rosa wieder seine Aufmerksamkeit zu. Es war Mittag, und über allem lag eine schläfrige Hitze, die sich nach der Fahrt auf der kühlen Etsch wie eine Betäubung auf Rosa legte.
»Du hast bestimmt Hunger?«
»Ja, wie ein Bär und ein Wolf zusammen.« Rosa fühlte sich plötzlich ganz schwach. Sie hatte vor zwei Tagen das letzte Mal etwas zu sich genommen. »Aber ich habe kein Geld.«
»Ich lade dich ein. Wir gehen zu meinem Bruder, der macht die besten Makkaroni von ganz Verona. Gehen wir dort entlang.«
Rosa folgte dem Mann, der am Fluss entlang lief, dann nach rechts abbog und sich in dem Gewirr der Sträßchen gut auszukennen schien. Er ging so schnell, dass Rosa Mühe hatte, ihm zu folgen.
»Ich bin dir jetzt schon zu großem Dank verpflichtet. Ohne dich würde ich bestimmt immer noch auf dem Damm neben der Etsch liegen.«
Der Mann blieb stehen, drehte sich um und wurde wieder rot. »Als ich gemerkt habe, dass du nicht stumm bist, da habe ich dich nur aus einem einzigen, sehr eigennützigen Grund gerettet. Ich will wissen, was meine Frau dir ins Ohr geflüstert hat. Aber wir sind gleich da. Lass uns beim Essen darüber reden.«
Rosa versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie sein Anliegen bestürzte. Was konnte sie ihm sagen? Durfte sie ihm die Wahrheit verraten? Auf sie machte der Mann den Eindruck, als liebte er seine Frau wirklich. Es würde ihm bestimmt das Herz brechen, wenn er die Wahrheit erführe. Wenn sie nur mehr über die beiden wüsste …
Er klopfte an die Tür eines freundlich und sauber aussehenden Gasthauses, die sofort von innen geöffnet
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