Die Hexengabe: Roman (German Edition)
Bei diesem Wetter lief niemand freiwillig draußen herum.
Selbst wenn Paolo nicht kommt, dann habe ich wenigstens besser geschlafen als die letzten Nächte, dachte sie. Das muss ich ausnutzen und mir etwas überlegen. Ich könnte die Gondel stehlen und verkaufen oder mir aus dem Baldachin einen Umhang machen. Der Gedanke, das Wappen der Lontanos zu missbrauchen, erfüllte sie mit großer Genugtuung.
In diesem Augenblick tauchte Paolo mit einem Sack über dem Rücken an der Mole auf. Vollkommen durchnässt begrüßte er sie, half ihr beim Aussteigen und reichte ihr mit einem strahlenden Lächeln zwei süße Teilchen, die Rosa in zwei Bissen verschlang und die sie noch hungriger machten als zuvor. Er holte noch zwei aus dem Sack.
»Ich hab auch Äpfel und Trauben, und ich habe zwei von den goldenen Tellern aus dem Damenzimmer genommen, die benutzt Mama sowieso niemals.«
»Und wo sollen wir das verkaufen?«, nuschelte Rosa mit vollem Mund. »Schließlich ist es gestohlen.«
Paolo wurde rot im Gesicht. »Ich weiß einen Laden, da können wir hin.«
»Aha.« Rosa, die gerade krachend in einen Apfel gebissen hatte, musterte Paolo von oben bis unten. »Wie oft hast du denn schon Sachen aus eurem Palast verkauft?«
»Nur selten.« Paolo starrte Rosa trotzig an und biss sich in die Lippen.
Was für eine Familie, dachte Rosa, doch dann fragte eine hämische Stimme sie: Was kümmert dich das, denk nur daran, wie sie dich betrogen haben. Sieh lieber zu, dass du so viel wie möglich herausschlägst.
Als sie sich auf den Weg machten, fühlte Rosa sich seltsam leicht. Mit dem Geld würde sie Männerkleider kaufen und mit dem Rest dann so lange falschspielen, bis sie das Geld für die Überfahrt zusammenhätte. Und weil ihr Vater so ein guter Lehrer gewesen war, würde das nicht lange dauern.
Paolo führte sie zu einem Geschäft mit einer verwitterten, früher einmal grün gestrichenen Ladentür, hinter deren schmutzigem Fenster es dunkel in einen schmalen Schlauch hineinging. In dem Raum war nur eine Ladentheke, hinter der ein zusammengeschrumpfter alter Mann lehnte. Er lächelte sie freundlich an, obwohl sich schnell Pfützen unter ihnen bildeten.
Paolo legte die goldenen Teller auf die Theke, woraufhin der Mann diese betastete, ja sogar hineinbiss, eine Waage aus den hinteren Räumen holte und, wie es Rosa vorkam, ewig brauchte, bis er mit einem Angebot aufwartete.
Schließlich wollte er ihnen zwei Golddukaten geben, wogegen Paolo heftig protestierte. Es ging eine Weile hin und her, bis man sich auf drei Dukaten einigte.
Als der Alte bemerkte, dass Paolo die Dukaten sogleich an Rosa weitergab, brach ein weiterer Wortschwall aus ihm hervor, den Rosa nicht verstehen konnte.
»Er fragt, ob er dir mit etwas dienen kann, ich denke …«, Paolo lächelte verschmitzt, »er würde dir gern etwas verkaufen, damit die Dukaten wieder zu ihm zurückkehren.«
»Wenn er Männerkleider für mich hat, könnten wir ins Geschäft kommen.«
»Männerkleider?« Paolo schüttelte den Kopf so heftig, dass Wassertropfen aus seinen Haaren bis zu Rosa hinspritzten. »Sind die Frauen in Norimberga alle so verrückt wie du?«
Nein, dachte Rosa, ganz sicher nicht, nur die mit einem Hexenfinger.
Der Alte hatte ihren Disput neugierig beobachtet und räusperte sich jetzt erwartungsvoll.
Paolo sah Rosa noch einmal an, sie nickte ihm zu, dann übersetzte er, woraufhin der Alte in den hinteren Räumen verschwand und kurze Zeit später zurückkam, so bepackt mit Kleidern, dass er wie ein wandelnder Kleiderhaufen wirkte.
Männerhosen, Hemden, Jacken, Mützen, Strümpfe, Gürtel, Schuhe.
Sie waren schon etwas abgetragen und rochen modrig, aber Rosa fand, das war genau das, was sie brauchte. Alles andere hätte in einem Wirtshaus verdächtig ausgesehen.
»Frag ihn, wo ich das ungestört anprobieren kann, und sag ihm, was mir passt, kaufe ich.«
Nachdem Paolo übersetzt hatte, führte der Alte Rosa nach hinten in eine Kammer, die anders als der kahle Vorraum vollgestellt war mit Gerümpel, Kleidern, Bettzeug, Töpfen, Kochlöffeln und zerfledderten Büchern. Er wies ihr einen Winkel mit einem beinahe blinden Spiegel voll schwarzer Schlieren zu, legte die Kleider vor sie hin und schloss die Tür beim Hinausgehen.
Sie begann sich zu entkleiden. Als sie zu ihrem Mieder kam, war sie unsicher, ob sie es anbehalten sollte oder nicht. Besser nicht, ihr Hemd konnte zerreißen, und sie würde zum Gespött der Männer werden. Aber dann brauchte sie
Weitere Kostenlose Bücher