Die Hexengabe: Roman (German Edition)
konnte sie vielleicht als Junge durchgehen. Sie hatte nichts mehr zu verlieren und vor allem keine Zeit mehr. Sie musste zu Geld kommen, um eine Schiffspassage bezahlen oder jemanden bestechen zu können, wenn es denn so weit war und endlich ein Schiff Richtung Westen aufkreuzte.
Durchs Fenster sah sie, wie der Junge unter dem gemeinen Gelächter der anderen Männer gerade schon die erste Runde verloren hatte und jetzt mit hängenden Schultern dasaß.
Er erinnerte sie an Paolo. Der war ihr anständig vorgekommen, so wie Giacomo. Vielleicht würde er ihr helfen, wenn sie ihm vor dem widerwärtigen Palazzo auflauern und mit ihm reden würde. Sie brauchte nur gerade so viel, dass sie ein paar Männerkleider kaufen konnte und noch genug übrig hätte für einen ersten Spieleinsatz. Dann könnte sie es mit denen da drin aufnehmen. Und Paolo wollte doch sicher immer noch wissen, wie Giacomo gestorben war …
Fünf Stunden später stand Rosa mit zitternden Gliedern und außer Atem vor dem Palazzo di Lontano. Sie hockte sich an das Ende der Gasse, von wo aus sie den Palast gut im Auge behalten konnte. Bei Einbruch der Dunkelheit saß sie immer noch dort. Die Augen fielen ihr ständig zu, ihre Beine waren mittlerweile taub, und in ihrem geschorenen Kopf klopfte und pochte es. Jetzt einen Lindenblütentee von Mutter und einen heißen Bettstein von Toni. Ein Bett. Ein Schlaflied. Sie summte ein paar Takte, aber das tat ihr in den Ohren weh.
»Was macht Ihr hier?«
»Giacomo?« Das war seine Stimme! Aber nein, das bilde ich mir ein, dachte Rosa. Es muss Fieber sein.
Doch dann trat eine Gestalt näher heran.
»Ich bin Paolo, nicht Giacomo. Sagt, warum hockt Ihr hier?«
Rosa blinzelte, kniff die Augen zusammen. Natürlich, das war er. Was hatte sie noch von ihm gewollt?
»Geld. Gib mir Geld. Deine Mutter hat mich betrogen.«
»Es war gemein, Euch das schöne Haar wegzunehmen und dann wegzujagen. Ich möchte gern wissen, wie Onkel Giacomo gestorben ist. Ob er noch etwas gesagt hat … etwas über mich vielleicht?«
»Gib mir Geld, nur dann rede ich. Ich glaube den Lontanos kein Wort mehr. Deine Familie lügt, wenn sie den Mund aufmacht.« Das Reden strengte sie an. Sie wollte nur noch schlafen, einfach nur schlafen.
Paolo stampfte empört mit seinen Füßen auf. »Ich lüge nicht!«
»Dann schaff mir Geld herbei.«
»Ich habe keines. Mama hat das Geld. Aber …«, er zögerte, »… ich könnte etwas aus dem Palast holen, und wir verkaufen es dann.«
»Jetzt?« Rosa erfüllte allein der Gedanke, irgendwohin gehen zu müssen, mit Abscheu. Sie konnte nicht mehr gehen. Keinen Schritt. »Wird dich denn niemand vermissen?«
»Nein, Papa ist nach Hause gekommen, da lässt Mama immer ein Festmahl servieren, und weil wir nicht genug Diener haben, sind dann alle im Speisesaal beschäftigt und keiner im Kinderzimmer. Und deshalb …«
Paolo plapperte immer weiter, sein Plappern war so beruhigend, Rosas Augen fielen zu.
»Du bist müde«, sagte er plötzlich verwundert und fiel ins Du, als wäre Rosa seine Schwester. »Ich zeige dir einen Platz, wo du schlafen kannst. Und morgen früh bringe ich etwas sehr Wertvolles aus dem Palast mit, und dann gehen wir und verkaufen es. Komm mit, es ist nicht weit entfernt.«
Rosa schleppte sich hinter dem Jungen her, fragte sich, ob es nicht ein schwerer Fehler war, dem Kind von zwei solchen Verbrechern zu trauen, doch sie war zu erschöpft, um zu protestieren.
An einer langen Mole, an der viele Boote und Gondeln vertäut waren, machte Giacomo halt.
»Wir sind da.« Er deutete auf eine etwas breitere Gondel mit einem Baldachin am hinteren Ende. »Das gehört uns, es liegt hier, weil es ausgebessert werden muss.«
»Heißt das, es wird untergehen, während ich schlafe?«
Paolo lachte. »Nein, es ist dicht. Aber unser Wappen auf dem Baldachin ist völlig verblichen und muss neu gemacht werden.« Er nahm seinen schwarzen Umhang ab und reichte ihn ihr. »Deine Decke«, sagte er, und Rosa legte sich hin und schlief ein, kaum dass sie die Decke über sich gebreitet hatte.
24. Kapitel
S trömender Regen, der sich in der Gondel sammelte, durchnässte Rosa und weckte sie auf. Sie fühlte sich nicht mehr so fiebrig wie die letzten Tage, sondern hatte im Gegenteil den Eindruck, endlich wieder klar denken zu können. Sie sah an ihren zerfetzten, schmutzigen Kleidern herunter und konnte es kaum erwarten, in frische zu schlüpfen.
Rosa richtete sich auf und sah über den Gondelrand.
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