Die Hexengabe: Roman (German Edition)
auf die Schiffe und wollte nicht glauben, was sie erfahren hatte. Das war doch unmöglich, ganz und gar unmöglich. Ihr war schwindelig. Suchend schaute sie sich im Hafen um. Unfassbar, dass alle diese Schiffe nach Osten unterwegs waren. Nicht ein einziges steuerte nach Westen.
Ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Brei, und in ihrem Kopf drehte sich alles. Sie taumelte zum Geländer einer Brücke und hielt sich an dem kalten Eisen fest.
Was man nicht ändern kann, muss man ertragen , hatte ihr Vater gesagt, wenn sie sich über ihren Hexenfinger beklagte, aber das hier war nicht auszuhalten.
Ich brauche etwas zu essen, um klar denken zu können, dachte Rosa. Aber sie hatte nichts, was sie zu Geld machen konnte, nur Siranushs Dolch, doch den würde sie niemals verkaufen.
Neben der Brücke waren Wirtshäuser, die sich vor den Palästen armselig ausnahmen. Il Papagallo hieß die nächste Spelunke und sah alles andere als einladend aus. Es war mehr eine Hütte als ein Haus. Nur ein paar roh zusammengehämmerte Bretter mit einem Holzdach, in den Fenstern war kein Glas, sodass Rosa sich ein gutes Bild von dem Lärm drinnen machen konnte.
Wenn ich ein Mann wäre, könnte ich einfach hineingehen und Karten spielen, dachte sie. Vielleicht sollte ich es trotzdem wagen? Doch ein Blick durch das Fenster zeigte ihr, dass sich außer Männern nur leicht bekleidete Huren drinnen aufhielten.
Nein, dort konnte sie nicht reingehen. Allein der Gedanke, dass ein Mann sie antatschen könnte, brachte sie zum Würgen.
Ihr leerer Bauch verkrampfte sich.
In Nürnberg hätte es den einen oder anderen Baum mit Äpfeln oder Birnen gegeben, aber Venedig war eine Stadt ohne Bäume. Jedenfalls hatte Rosa noch keinen einzigen Obstbaum entdecken können. Doch bevor sie verhungerte und damit das Leben ihrer Familie aufs Spiel setzte, musste sie sich etwas zu essen besorgen, sogar, wenn sie dafür stehlen musste. Überall am Hafen gab es doch kleine Stände mit Obst und Gemüse. Ein paar Trauben oder Möhren, ganz egal, irgendwas.
Rosa lief zum nächsten Obstkarren. Die Frau dahinter trug ein löchriges Kleid, hustete fortwährend und stillte ein Kind, das sie im rechten Arm hielt. Als Rosa sich dem Karren auch nur ein wenig näherte, warf die Frau ihr misstrauische Blicke zu, die Rosa dazu brachten, sich zu schämen und schnell weiterzugehen.
Mittlerweile hatte die Sonne die grauen Wolken verdrängt und die Kanäle in prächtig glitzernde Straßen verwandelt. Das Licht stach in Rosas müde Augen, und sie musste diese mit der Hand abschirmen, um überhaupt etwas sehen zu können.
Dort hinten neben der kleinen Statue auf dem Platz war ein großer Stand mit nur einem alten Mütterchen, das dösend hinter dem Karren auf einem Hocker saß.
Schon von Weitem stieg Rosa der süße Duft der aufgeschnittenen Zuckermelonen in die Nase. Diesmal würde sie zuschlagen.
Langsam schritt sie näher, immer in der Hoffnung, dass die Alte weiterdösen würde.
Jetzt, Rosa, jetzt nimmst du ein Büschel Trauben und läufst los.
In dem Augenblick, als Rosa die Trauben berührte, begann ein heiseres Bellen, und wenige Sekunden später umtanzte ein schwarzbrauner, zotteliger Hund Rosas Beine. Die Alte war davon erwacht.
»Piacere?«, fragte sie, und Rosa spürte, wie ihr Gesicht rot wurde wie Kirschen. Sie hasste den Hund in diesem Moment nicht weniger als sich selbst. Zur Alten hin schüttelte sie bedauernd den Kopf und versuchte weiterzugehen, doch der Hund sprang und kläffte mit gefletschten Zähnen so gefährlich um sie herum, dass sie sich nicht traute.
Schließlich hatte die Alte ein Einsehen. »Rocco!«, rief sie, »Rocco, vieni qui! Basta, Rocco, basta.«
Rosa rannte weg von dem Karren, stürmte zum nächsten Platz, der ihr genauso fremd und unbekannt erschien wie alles in dieser Stadt. Zitternd setzte sie sich an den Rand eines Brunnens.
Ihr Blick fiel auf den Fisch aus dunklem Stein, aus dessen Maul voll grüner Algen Wasser in das Becken tropfte. Sie würde jedenfalls nicht verdursten. Nein, das wohl nicht, dachte sie und brach in Tränen aus.
22. Kapitel
U nd warum sollte der Löffelholtz nicht das Haus von der Zapfin kaufen?« Ich legte, mühsam beherrscht, mein Silberbesteck auf den Teller. Der Alte wurde langsam zu einer Plage. Er war nicht mehr im Rat. Ich war nun im Rat. Doch das hielt ihn nicht davon ab, sich andauernd in meine Angelegenheiten und die der Stadt einzumischen.
Mein Vater zündete sich bedächtig eine Pfeife
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