Die Hexengabe: Roman (German Edition)
abgetrennt werden müssen, wenn sie am Leben bleiben wollen. Eigentlich müsste es hier auf dem Schiff noch einen zweiten Schiffschirurgen geben, aber den haben sie sich gespart. Du wirst also viel zu tun bekommen. Und weil wir ständig zusammenarbeiten, erlaube ich dir, Wolf zu mir zu sagen.«
Den Rest des Tages verbrachten sie damit, alles für die Arbeit des Schiffschirurgen einzurichten. Tatsächlich wurden die Patienten gleich neben Rosas Hängematte behandelt. In dem Verschlag dahinter waren das Verbandszeug und die Drogen untergebracht, die ständig gebraucht wurden.
Außerdem sah Rosa zu, wie Wolfhardt reichlich merkwürdige Instrumente aus Metall bereitlegte. Kleine und große Dolche mit scharfen Klingen, Hammer, Scheren und Zangen sowie Geräte, die aussahen, als könnte man damit etwas aushebeln. Bei der Vorstellung, mit ansehen zu müssen, wie damit eines Menschen Arm oder Bein abgetrennt wurde, bekam Rosa eine Gänsehaut.
Aber sie hatte nicht viel Zeit für solche Zimperlichkeiten, denn als sie mit den Vorbereitungen für die Sprechstunde fertig waren, musste Rosa den winzigen Garten gießen, der sich hinter dem Verschlag befand. Dann waren die direkt daneben gehaltenen Schweine, zwei Säue, zwölf Ferkel und die vierzig Hühner zu füttern.
Um sie herum herrschte rege Betriebsamkeit: Fässer mit Frischwasser wurden gebracht und im Unterdeck verstaut, Säcke mit Graupen, Erbsen, Mehl und Salz, Fässer mit Wein, Bier, Essig, Öl und Butter neben Hunderten von goldgelben Käselaibern unter Deck verstaut.
Niemand stand still, alle waren ständig in Bewegung, die Schiffsjungen mussten das Deck schrubben oder Taue spleißen. Der Geschützmeister hielt die Soldaten an, sich zu vergewissern, dass die Kanonen in Schussbereitschaft waren, der Profos kommandierte Trompeter und Trommler zum Wachwechsel und erteilte jedem, den er untätig fand, einen Rüffel. Matrosen prüften die Taue, kletterten an der Rahe entlang.
Der Arzt hatte sich nach den Vorbereitungen wieder in seine Kajüte begeben, weil er von der Schlägerei immer noch geschwächt war.
Rosa nutzte die Zeit, um sich mit dem Schiff vertraut zu machen, achtete aber darauf, dem Profos nicht unter die Augen zu kommen, was schier unmöglich zu sein schien, denn er war überall.
Als sie ganz unten im Bauch des Schiffes anlangte, stand er dort und zählte die Fässer mit Waren der VOC, den Proviant und die Munition. Als Rosa aufs Unterdeck flüchtete, das auch als Stauraum benutzt wurde, beriet er sich mit einem Schmied wegen der Ankerkette, an der einige Teile defekt waren.
Zum Glück war der Profos abgelenkt, und weil das Unterdeck unter dem Wasserspiegel lag und es dort dunkel und stickig war, entdeckte ihn Rosa, bevor sie ihm auffallen konnte. Mit Staunen sah sie, dass hier auch die achtzig Söldner schlafen mussten.
Darüber lagen noch zwei Decks: Auf dem Zwischendeck befand sich die Kombüse, wo der Proviantmeister mit dem Koch eine laute Auseinandersetzung führte. Und geradeso, als hätte der Profos magische Fähigkeiten, kam er auch schon herangestürzt und mischte sich ein. Rosa dämmerte langsam, was für eine Verantwortung auf dem Mann lastete.
Sie schlich sich zum Weinlager und betrachtete die mächtige Winde, die zum Ankerlichten gebraucht wurde und die, genauso wie der größte Teil der Matrosen, in diesem Zwischendeck untergebracht war.
Rosa suchte nach Willem, konnte ihn aber nicht finden. Obwohl ihr niemand Beachtung schenkte, traute sie sich nicht, jemanden nach ihm zu fragen.
Sie war froh, als sie endlich wieder auf dem Hauptdeck angelangt war, wo sich achtern die Kapitänskajüte befand, die Hütten der Offiziere und die der wenigen Passagiere, die zumeist im Auftrag der VOC reisten, sowie die Kajüte des Schiffsarztes.
Das also wird in den nächsten Monaten meine Behausung sein, dachte sie und erkannte plötzlich mit Schaudern, dass sie all diese vielen Meilen ja auch wieder zurückreisen würde. Mit einem Kind, für das sie dann sorgen musste.
Sie seufzte tief. Und ihr blieben nicht einmal mehr zweiundzwanzig Monate, um das zu schaffen.
Sie trat an die Reling und starrte in den blauen Himmel, vor dem die Paläste Venedigs beinahe golden hervortraten, dann fiel ihr Blick auf das schimmernde Wasser, wo sich Himmel und Paläste widerspiegelten.
Giacomos Worte kamen ihr in den Sinn: Venedig ist die einzige Stadt der Welt, in der das Meer die Unendlichkeit des Himmels und der Himmel die Unendlichkeit des Meeres hat.
Sie fand,
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