Die Hexengraefin
ihr Geheimnis kannte. Mit beinahe penetranter Vertraulichkeit zog sie die um zehn Jahre Jüngere an sich, verbrachte den Großteil ihrer Freizeit mit ihr und bekundete falsche Anteilnahme am Schicksal ihrer Schwester, Demoiselle Hélène de Morrisson.
Die Gräfin war im Kloster von Anfang an bei der Wahrheit geblieben und hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass Hélène durch die falsche Anklage, eine Hexe zu sein, vom Henker so unmenschlich zugerichtet worden sei.
»Die Torturen haben ein Wrack aus ihr gemacht, aber in der Zwischenzeit ist es uns gelungen, durch allerlei Medizinen und Tinkturen ihre körperliche Gesundheit wiederherzustellen. Allein ihre Seele ist immer noch fern von uns. Ursprünglich war es ein Segen für sie, dass Verstand und Seele sich gleichsam in ihr Inneres zurückgezogen haben; nur so ist es ihr möglich gewesen, überhaupt zu überleben.«
»Während der nächsten Andacht werde ich für Eure Schwester beten«, versprach die – ihrer heimlichen Abneigung gegen die deutschen Frauen zum Trotz – doch recht betroffene Mutter Oberin.
»Was haltet Ihr übrigens davon, Madame, Demoiselle Hélène einmal mit dem wundertätigen Hemd zu bedecken? Vielleicht kann der heilige Thomas auch an ihr ein Wunder vollbringen?«, erkundigte sich in vollem Ernst die Ehrwürdige Mutter.
Adelaide glaubte zuerst, sich verhört zu haben. Bald aber erkannte sie, dass die Ältere ihren absurden Vorschlag vollkommen ernst meinte.
»Es scheint, dass Madame des Anges mittlerweile selbst an den von ihr inszenierten Betrug glaubt«, erklärte sie ihrer verblüfften Zofe Anne.
»Und, Madame, wie habt Ihr reagiert?«, lachte das Mädchen.
»Ich habe zugestimmt. Denn ich wollte die gute Dame nicht vor den Kopf stoßen – außerdem kann man nie wissen, nicht wahr? Es passieren zuweilen die merkwürdigsten Dinge. Erinnere dich, Anne, was der jüdische Leibarzt Bischof Leopolds gesagt hat: Durch irgendeinen Zwischenfall kann es geschehen, dass völlig unerwartet der Verstand und die irrende Seele gleichsam wieder in ihren Körper zurückfinden, ohne dass wir eine Erklärung dafür haben. Das kann ganz unspektakulär vonstatten gehen. Du erinnerst dich an die Namensnennung ihres Bruders, als wir zum ersten Mal bei ihr eine Reaktion bemerkten? Es ist aber genauso gut möglich, dass durch ein ganz besonderes Ereignis und im Beisein Vieler eine Heilung zustande kommt. Wir werden es auf jeden Fall versuchen.«
Während der Abendandacht, die Frater Philibert, der junge Franziskanermönch, abhielt, der zum neuen Beichtvater der Nonnen ernannt worden war, würde man die teilnahmslose Demoiselle de Morrisson auf einer Bahre in die Klosterkapelle tragen und ihr vor dem Altar im Angesicht aller Klosterfrauen, der Äbtissin, ihrer Schwester Adelaide sowie zahlreicher Besucher aus Auxerre das seidene Hemd der Äbtissin mit den fünf sichtbaren Ölflecken über den Körper legen.
Im Anschluss daran würden Bittgebete zum heiligen Thomas geschickt werden, damit der Heilige den verloren gegangenen Verstand der jungen Frau wieder in ihren Kopf zurückkehren lassen möge.
»Wir verlieren nichts dabei und dem Helen tut’s nicht weh«, sagte die Comtesse.
KAPITEL 64
UND TASÄCHLICH WAR DAS, was sich während der Andacht ereignete, durchaus wert, einer genaueren Analyse unterzogen zu werden.
Die stumme und lethargische Kranke hatte sich zum großen Erstaunen aller auf ihrer Liege aufgerichtet, nachdem man sie mit dem Hemd bedeckt hatte. Ja, richtiggehend gewehrt hatte sie sich gegen dieses Stück Stoff, das einen merkwürdig süßen und doch zugleich würzigen Duft verströmte.
Die Comtesse hatte sie beruhigt, sodass sie sich erneut niederlegte, aber kaum kam das wundertätige Hemd mit dem ihrem erneut in Kontakt, stieß sie einen Schrei aus und warf es von sich.
Das war etwas ganz Neues. Niemand hatte seit ihrer Ankunft einen solchen Laut von ihr gehört. Die Schwestern hatten sie bei sich nur »die Stumme« genannt.
Die anwesenden Nonnen in der Kapelle riefen durcheinander: »Ein Wunder!« »Ein neues Wunder ist geschehen!« »Die Stumme hat gesprochen« – was allerdings eine arge Übertreibung darstellte. Bisher war nur ein unartikulierter Laut aus ihrer Kehle gedrungen. Man wiederholte den Versuch, und wieder machte Adelaides Schwester heftige Bewegungen der Abwehr und schrie erneut laut auf, sodass ihr Schrei unter dem gotischen Spitzbogengewölbe der Kapelle widerhallte.
Die Anwesenden waren längst nach vorne
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