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Die Hexengraefin

Titel: Die Hexengraefin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karla Weigand
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gestürzt. Ja, sie drängten sich rücksichtslos um die Bahre der Kranken, wobei die Leute aus Auxerre auf die frommen Frauen wenig Rücksicht nahmen: Jeder wollte derjenige sein, der dem Wunder am nächsten stand.
    »Legt ihr noch einmal das Hemd auf!«, verlangte die Menge, und selbst die Nonnen und die Äbtissin plädierten für einen weiteren Versuch.
    Der junge Franziskanerpater stand stumm und ängstlich daneben und äußerte sich gar nicht. Ihm war das alles zu unheimlich.
    Mon Dieu, bloß nicht schon wieder ein Wunder. Die Überspanntheit der Weiber ertrage ich so schlecht, dachte er, und es wurde ihm dabei eiskalt vor Schreck. Er kannte schließlich die Mutter Oberin und ihre exaltierten Liebeswünsche zur Genüge …
    Die Comtesse bemühte sich, Hélène, die mit weit offenen Augen dalag, zu besänftigen, indem sie ihr leise ein Wiegenlied aus der Heimat vorsummte.
    Auch dieses Mal versagten Adelaides Bemühungen nicht. Die Hände Hélènes lagen ruhig neben ihrem Körper, die Augen schauten wie immer starr geradeaus, und der zum Schreien geöffnete Mund hatte sich geschlossen.
    »Nun, Pater, legt Ihr erneut das wundertätige Hemd mit dem Heilöl des heiligen Thomas auf«, forderte ungeduldig die Äbtissin. Der junge Mönch zuckte zusammen. Dann ermannte er sich, fasste das seidige Gebilde mit spitzen Fingern und breitete es sorgsam über die vor ihm Liegende.
    Diesmal kam der Stoff des dünnen Nachtgewandes nicht nur mit dem Hemd der Demoiselle Hélène in Berührung, sondern auch mit Teilen ihrer Haut. Und jetzt war die Reaktion der Stummen geradezu sensationell zu nennen.
    Wie von der Tarantel gestochen, sprang sie von der Liege auf, schleuderte das Nachthemd der Mutter Oberin von sich, öffnete ihren Mund und rief so laut sie konnte auf Deutsch: »Nein, nein, nein!«
    Dann, gleichsam, als habe sie sich verausgabt, brach sie lautlos zusammen und stürzte neben der Bahre in der Kapelle auf den Marmorboden. Alles ging so schnell, dass niemand sie hatte auffangen können; es blieb zu hoffen, dass sie sich nichts gebrochen hatte.
    Dieses dreimalige, unüberhörbare Nein war nun ohne jeden Zweifel ein Anzeichen dafür, dass die bisher allem Irdischen entrückt Erscheinende sehr wohl ihre völlige Teilnahmslosigkeit aufgegeben hatte, und ihre Fähigkeit zum Sprechen schien ebenfalls zurückgekehrt zu sein.
    »Ein Wunder! Mon Dieu, ein Wunder! Halleluja, ein neues Wunder ist im Kloster geschehen!«, schallte es aus zahlreichen Kehlen, und selbst der verdatterte, junge Franziskaner und die äußerst skeptische Comtesse Adelaide de Bréteuil vermochten sich der allgemeinen Begeisterung nicht zu entziehen.
    Immerhin hatte Adelaide ihre liebe Schwester selbst gehört. Das war kein Traum gewesen, und kein Schwindel hatte dies zustande gebracht.
    »Ich verstehe das nicht. Ich kann es einfach nicht begreifen«, murmelte die Gräfin vor sich hin, und ihr Blick suchte ratlos die Augen ihrer Zofe. Aber auch Anne zuckte hilflos mit den Achseln.
    Was sich da eben vor den Augen zahlreicher Zuschauer ereignet hatte, ließ sich nicht so leicht als Betrug abtun. Aber was war es dann?
    War es einfach nur der richtige Zeitpunkt gewesen, an dem es Helene Hagenbusch vorherbestimmt war, wieder am normalen Leben teilzunehmen? Vor einiger Zeit hatte sie ja bereits Anteilnahme bekundet, als der Name ihres Bruders Georg gefallen war. Aber warum sie so auffällig auf die Berührung mit dem Hemd der Äbtissin reagiert hatte, würde wohl immer ein Rätsel bleiben. War es der penetrante Geruch, welcher dem Kleidungsstück entströmte?
    Die Äbtissin hatte die auf so wunderbare Weise ins Leben Zurückgekehrte in ihren mit Schnitzwerk und Vergoldungen verzierten Äbtissinnenstuhl setzen lassen, während sie selbst demütig daneben auf dem eisigen Boden kniete.
    Die Andacht ging weiter – das wundertätige Hemd aber hatte man auf dem Altar ausgebreitet, wo alle Anwesenden die fünf, frisch prangenden Flecken des heiligen Öls sehen konnten.
    Die meisten weinten vor Ergriffenheit, und Adelaide fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Sie konnte die Augen nicht von ihrem Helen wenden, das seine Blicke in der Kapelle herumwandern ließ und sich die Menschen genau zu betrachten schien.
    Auf der neben ihrem Sitz auf der Erde zusammengesunken kauernden Äbtissin ließ die junge Frau ihren Blick besonders lange ruhen, so als wäre diese eine ganz eigene Art von Mensch – womit sie zweifelsohne recht hatte.
    Als ihre wieder lebendig strahlenden,

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