Die Hexengraefin
Unterernährung.
Bei Arm und Reich beliebt waren diverse Obstbreie, mit viel Honig und einer Menge Pfeffer gewürzt, wer sich dieses teure Gewürz leisten konnte. Dass sich neuerdings im Land der Konsum an Rohrzucker so verbreitete, ließ verantwortungsvolle Heilkundige schaudern.
Schon Doktor Wendelin Ohngleich aus Adelaides Heimat hatte dagegen gewettert, und von dem jüdischen Arzt Aaron Weinlaub hatte die Comtesse in Straßburg die gleiche Kritik gehört.
Länder wie Portugal und Spanien bezogen ihren Reichtum unter anderem aus den Zuckerrohrplantagen in den neuen Kolonien auf den Kanarischen Inseln, auf Madeira und an der westafrikanischen Küste.
Vor allem die Kinder der Reichen wurden neuerdings mit »Dragant« verwöhnt, dem Allheilmittel, um die Kleinen ruhig zu stellen. Dies war eine Mischung aus Stärkemehl, Gummi Arabicum und Zucker, worauf alle verrückt waren, obwohl es dick machte, den Appetit auf »normale« Speisen verdarb, Magendrücken verursachte und die Zähne faulen ließ.
Auch in Frankreich war das süße Zeug üblich, und vor allem Anne wurde von Adelaide immer wieder dabei erwischt, wie sie das »Teufelszeug« lutschte, obwohl sie wusste, dass ihre Herrin strikt dagegen war. Erst als die Zofe mit schmerzverzerrtem Gesicht umherlief, bereute sie es, ihre bis dato makellosen Zähne mit dem zuckrigen Dreck krank gemacht zu haben.
»Da hilft nun alles nichts, meine Liebe«, sagte die Comtesse und veranlasste ihren Geliebten, den Bader aufs Schloss kommen zu lassen, um Annes löchrigen Backenzahn zu ziehen.
Der getreue Jules hielt seinem Schätzchen Anne während der Prozedur mannhaft die Hand, obwohl er gleich zu Anfang umzukippen drohte, als der Bader sein Instrumentarium zum Zähneziehen ausgepackt hatte.
Hélène hatte der jammernden Zofe vorher zur Beruhigung und Schmerzdämpfung einen Trank verabreicht, der sie ziemlich willen- und teilnahmslos dasitzen ließ. Nach erfolgreicher Extrahierung war sie so erschöpft, dass sie sich für den Rest des Tages niederlegen musste.
Am nächsten Morgen schwor sie ihrer Herrin heilige Eide, dieses verflixte Dragant unter keinen Umständen mehr anzurühren. Tagelang musste sie zu ihrem Missvergnügen noch mit geschwollenem Gesicht herumlaufen, aber das Helen lachte nur und meinte: »Merk dir: Lieber eine dicke Backe als ein dicker Bauch, oder?«
Beauregard lag da wie ausgestorben. Jedermann hatte sich nach dem Mittagsmahl ein ruhiges, vor allem dunkles Plätzchen im Schloss gesucht, um während der heißesten Stunden des Tages Siesta zu halten.
Um die glühenden Sonnenstrahlen abzuhalten, waren die dicken Vorhänge zugezogen sowie sämtliche Fenster des Gebäudes mit Holzläden verschlossen, so dass es in allen Räumen finster war wie in einer Gruft, aber dafür einigermaßen kühl.
Im Schlafgemach des Comte lag das Liebespaar nackt auf dem breiten Himmelbett; sogar eines der dünnen Laken hatten Bernard und Adelaide achtlos abgestreift; das spinnwebfeine Tuch kringelte sich auf dem Marmorfußboden.
Nach ihrem erregenden Liebesspiel eingeschlummert, waren sie der großen Hitze wegen auseinandergerückt – normalerweise pflegten sie einer in den Armen des anderen einzuschlafen. Aber durch den dünnen Schweißfilm auf ihren Leibern fühlten sie sich klebrig an; die Comtesse dachte noch, ehe sie in einen bleiernen Schlummer versank: ›Eigentlich müsste ich mich in einer dieser Zinkwannen reinigen – aber ich bin dazu einfach zu müde. Nach dem Aufstehen ist dafür auch noch Zeit‹.
Den Luxus, jederzeit baden zu können, genoss die junge Frau am meisten. Ihr Geliebter hatte die Sitte, sich regelmäßig in Wannen aus Holz oder Zink ausgiebig zu waschen, in England kennengelernt, wo er einige Zeit seines Lebens verbracht hatte.
Auf der Insel war man, was Hygiene anbelangte, ein gutes Stück weiter als im übrigen Europa, wo selbst der Adel glaubte, es genüge, sich mit Duftwässerchen zu überschütten, um nicht Wolken von üblen Körpergerüchen auszudünsten.
Monsieur Bernard hatte sogar eine Toilette mit raffinierter Wasserspülung in seinem Domizil installieren lassen – etwas, was ihm in Adelskreisen den Ruf eingetragen hatte, ein arger Exzentriker zu sein.
Obwohl die meisten neidisch darauf waren, beließen sie es doch, der Bequemlichkeit halber oder weil sie die Kosten scheuten, bei der alten Unsitte, auf Hintertreppen, in abgelegenen Fluren und finsteren Alkoven »ihr Geschäft zu verrichten«, mit der Folge, dass es innerhalb
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