Die Hexengraefin
Mensch aus!«, rief laut und angeekelt Adelheid von Ruhfeld.
»Wer hier herinnen ist, gilt nicht mehr als Mensch«, sagte Helene mit leiser Stimme. »Bist du erst einmal im Turm, gehörst du zu einer anderen Gattung von Lebewesen. Und dann spielen Gestank, Finsternis, Kälte und Feuchtigkeit keine Rolle mehr. Genauso wenig wie Hunger und Durst und die Schlaflosigkeit wegen der unzähligen Ratten.«
Die drei Besucher schnappten hörbar nach Luft. Erst als die »Köchin« mit einer brennenden Kerze in einem schmutzigen Glasgefäß erschien, konnten Georg, Ursula und Adelheid Helene sehen. Sie mussten sich zusammennehmen, um nicht laut vor Empörung aufzuschreien.
In der hintersten Ecke auf einem dreckigen Bündel Stroh, an die Wand gekettet, lag sie, nur mit ihrem zerrissenen, beschmutzten Kleid bedeckt, ohne Schuhe und selbstverständlich ohne das große Umlegetuch, das Adelheid ihr bereits am ersten Abend geschickt hatte.
Bruder und Freundin schlossen die Unglückliche in ihre Arme, während Ursula mit Tränen in den Augen dabeistand.
Auch sie schlang anschließend die Arme um das Helen, sich mühsam ein lautes Schluchzen verbeißend.
»Haben dir die Wächter wehgetan?«, fragte Georg, aber seine Schwester schüttelte den Kopf.
»Nein, nein. Nur die Knechte des Scheible waren grob zu mir. Sie haben mich herumgeschubst und mein Kleid zerrissen. Und dem Mann, der mich zuerst in dieser Zelle so angekettet hat, dass ich mit den Füßen den Boden nicht berühren konnte, dem verdanke ich die Hautabschürfungen. Angeblich wird das bei den Hexen so gemacht, damit sie ihre Macht verlieren.«
Seltsam teilnahmslos hatte Helene das gesagt, und ihren Besuchern lief es dabei eiskalt über den Rücken.
»Hat man dich bereits dem Richter vorgeführt?«, erkundigte sich schließlich Adelheid von Ruhfeld. Dann erst bemerkte das Edelfräulein, dass sich der Wärter und das Weib immer noch im Raum befanden.
»Ihr könnt gehen. Falls wir euch brauchen, rufen wir nach euch«, sagte Adelheid mit deutlicher Schärfe in der Stimme.
Erst wollte der Mann protestieren, dann überlegte er es sich anders und ging. »Ich warte vor der Tür«, murmelte er. Seine widerstrebende Frau zog er dabei am Ärmel hinter sich her.
»Sag, Liebes, standest du schon vor Gericht?«, wandte sich Adelheid erneut an ihre Freundin.
»Ja. Heute, noch vor Morgengrauen, hat mir die Frau des Oberwärters eine Schale mit wässriger Graupensuppe gebracht. Ich wollte das Zeug zuerst nicht anrühren, aber sie hat mich beinahe dazu gezwungen. ›Iss‹, hat sie zu mir gesagt, ›sonst stehst du das erste Verhör nicht durch. Anschließend wirst du dann dem Richter vorgeführt.‹ Aber da ist mir der Appetit erst recht vergangen.«
»Mein Gott, das kann ich mir vorstellen. Schon beim Gedanken daran, in dieser ekligen Umgebung Nahrung zu sich zu nehmen, dreht sich einem ja der Magen um!«, rief Ursula aus. Sie erntete aber einen strafenden Blick von ihrer jungen Herrin.
»Unsinn. Leni, du musst dich zwingen, etwas zu essen«, redete Adelheid ihrer Freundin zu. »Sonst hältst du das wirklich nicht durch. Ich fürchte, es wird noch ein Weilchen dauern, bis wir dich loseisen können.«
Intuitiv hatte Adelheid den Kosenamen aus ihrer Kinderzeit benutzt und prompt brach die Gefangene in Schluchzen aus. Es war, als bräche ein Damm, und ihre mühsam errichtete Barrikade aus Tapferkeit zerbröckelte.
Als sich Helene wieder gefasst hatte, erzählte sie ihren Besuchern von ihrer ersten Begegnung mit dem Obersten Richter, Bertold Munzinger.
KAPITEL 16
DIE BÜRGER DER KLEINEN GEMEINDE Reschenbach waren sehr erstaunt, anstatt ihres auf Lebenszeit gewählten Dorfoberhauptes Jakob Hagenbusch, den Andreas Sütterlin, Mitglied der Zunft der Schuhmacher, auf dessen Amtssessel sitzen zu sehen. Sütterlin gehörte dem Gemeinderat an und war ein ausgemachter Feind Hagenbuschs.
Gegner waren die beiden seit ihrer Jugendzeit. Jakob hatte doch den Andreas einst windelweich geprügelt, als er den neunzehn Jahre alten Schuhmachergesellen dabei ertappte, wie der brutal ein zehnjähriges Kind schändete.
Das bitterlich weinende Vreneli hatte Jakob förmlich unter dem wie rasend zustoßenden Sütterlin hervorziehen müssen. Der Vergewaltiger hatte die Schreie und Schläge des Gleichaltrigen gar nicht wahrgenommen; nicht zu bremsen war er in seinem ekligen Tun gewesen. Wie ein Besinnungsloser hatte er versucht, seinen Trieb an der hilflosen Kleinen abzureagieren.
Erst als Jakob ihm
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