Die Hexenjagd von Salem Falls
dem Philosophiebuch – er ist auf dem Weg hierher.«
Addie wußte sofort, wen Jack meinte. Der Schüler kam zwar noch nicht lange, war aber schon ein Stammgast. Bis auf sonntags kam er täglich um halb drei, setzte sich an den hintersten Tisch und holte aus seinem abgegriffenen Rucksack eine zerlesene Taschenbuchausgabe von Nietzsches ›Jenseits von Gut und Böse‹ hervor. Seit drei Wochen bestellte er jeden Tag ohne Ausnahme ein Schinken-Salat-Tomaten-Sandwich, ohne Tomate mit extra Mayonnaise. Eine doppelte Portion Pickles. Dazu gebackenen Käse und schwarzen Kaffee.
Sobald Delilah die Bestellung fertig hatte, eilte Jack damit zurück ins Restaurant, wo der Schüler sich gerade auf seinen Stammplatz setzte. Mit einem triumphierenden Lächeln stellte er den Teller vor ihn hin.
Der Junge, der gerade sein Buch aus dem Rucksack holte, stutzte. »Was soll der Scheiß?« fragte er.
Jack deutete mit einem Nicken zum Fenster. »Ich hab dich kommen sehen. Und du bestellst das hier seit drei Wochen fast jeden Tag.«
»Na und?« sagte der Schüler. »Vielleicht hätte ich heute einen Hamburger gewollt.« Er stieß den Teller über den Tisch, so daß er über den Rand auf die Sitzbank fiel. »Verschonen Sie mich mit Ihren Gedankenspielchen«, sagte er und stürmte nach draußen.
Addie sah von der Schwingtür aus, wie Jack anfing, das Essen aufzusammeln. Wütend wischte er Mayonnaise vom Kunststoffbezug und legte Teile des auseinandergefallenen Sandwichs zurück auf den Teller. Als er sich umdrehte, sah er Addie neben dem Tisch stehen. »Ich mach das schon«, sagte sie.
Aber Jack schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, daß ich dir einen Gast vergrault habe.«
»Es war ja wohl keine Absicht.« Addie lächelte. »Außerdem hat er immer nur ein mickriges Trinkgeld gegeben.«
Etwas an Jacks verspannten Schultern und seinem ausdruckslosen Blick verriet ihr, daß er schon einmal eine Ohrfeige hatte einstecken müssen, wo er doch nur jemandem eine Freude hatte machen wollen. »Manche Leute wissen es einfach nicht zu schätzen, wenn man nett zu ihnen sein will«, sagte Addie.
Wie nett würdest du zu mir sein? dachte sie und war über sich selbst entsetzt. Jack war ihr Mitarbeiter. Er war ganz anders als sie, ein Unterschied wie Tag und Nacht. Doch dann mußte sie daran denken, daß er am Morgen für Delilah am Herd gestanden und Pfannkuchen in Form von Schneemännern zubereitet hatte, die er dann auf Chloes Teller auf der Theke gelegt hatte. Sie mußte daran denken, wie sie abends nach Feierabend zusammen den »Diner« für den nächsten Tag vorbereiteten, ein Tanz, der so eingespielt war, als wäre er ihnen schon seit einer Ewigkeit in Fleisch und Blut übergegangen.
Plötzlich wollte sie, daß Jack das gleiche empfand wie sie in letzter Zeit. Daß nämlich jemand an ihrer Seite war, der sie verstand. »Stuart kommt seit Jahren her, und jeden Morgen tue ich so, als hätte ich keine Ahnung, was er bestellen wird, obwohl es immer das gleiche ist – Schinken-Käse-Omelett, Bratkartoffeln und Kaffee. Jack, ich weiß, du wolltest bloß freundlich sein«, sagte Addie, »aber die meisten Gäste mögen es nicht, wenn man sie durchschaut.«
Jack stopfte sich den schmutzigen Spüllappen in den Schürzenbund und nahm ihr den Teller aus der Hand. »Wer mag das schon?« sagte er und ließ Addie stehen, die sich fragte, ob seine Antwort eine Mauer sein sollte, um sie auf Abstand zu halten, oder ein Hinweis, um ihr auf die Sprünge zu helfen.
Meg Saxton empfand Schulsport als eine besondere Form der Demütigung. Sie war nicht fettleibig, wie die Leute, die Richard Simmons besuchte, weil sie nicht mal mehr aus dem Bett kamen. Ihre Mutter meinte, sie sei noch im Wachstum. Ihr Vater meinte, es sei einfach viel dran an ihr, das man lieben konnte. Meg fand, die beiden hatten gut reden; schließlich mußten sie keine Einkaufsbummel mit Freundinnen durchstehen, bei denen sie so tat, als gäbe es nichts Interessantes für sie im Angebot, damit keiner mitbekam, daß sie bei Größe 44 suchte.
Die beiden Mädchen, die ihre Mannschaft zusammenstellen durften, strahlten das Selbstvertrauen aus, daß sie dergleichen durchaus gewohnt waren. Suzanne Abernathy war Kapitän der Feldhockeymannschaft; Hailey McCourt hatte die Fußballmannschaft im Jahr zuvor zur Meisterschaft geführt. Sie ließen den Blick über die Gruppe von Mädchen wandern und trennten im Geist die Sportskanonen von den
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