Die Hexenjagd von Salem Falls
besänftigten sie, aber sie war untröstlich. Solchen Schmerz hatte Charlie erst einmal erlebt – als er einer Frau, die einen Autounfall überlebt hatte, beibringen mußte, daß ihr zwei Jahre altes Kind nicht dasselbe Glück gehabt hatte wie sie.
Seine Tochter sah ihn. »Daddy«, sagte sie und warf sich in seine Arme.
»Schsch. Meggie, Kleines, jetzt ist ja alles gut.« Den Arm fest um seine Tochter gelegt, ging er zu den anderen. »Was ist passiert?« Aber er bekam keine Antwort.
Er kniete sich neben Gillian. »Kleines«, sagte er und sah jetzt die Blutflecken auf ihrer Bluse, die falsch zugeknöpft worden war. »Alles in Ordnung mit dir?«
Sie hob das Gesicht, weiß und von Tränenspuren durchzogen, wie ein Netz aus Narben. Gillians Kehle zog sich deutlich sichtbar zusammen, und ihr Mund zuckte, als sie schließlich doch die Kraft fand zu sprechen. »Er … war’s.«
Jeder Muskel in Charlies Körper spannte sich an. »Wer, Kleines?«
»Er hat mich vergewaltigt«, schluchzte Gillian, die Worte abgehackt. »Jack St. Bride.«
II
Jill kommt gerannt, sieht den Verband
und kugelt sich vor Lachen,
Als Mutter das hört, schimpft sie empört
Und läßt den Rohrstock krachen.
Wenn eine von euch nur ein Wort oder auch nur den
Hauch von einem Wort über das andere sagt, dann
komme ich mitten in einer schrecklich finsteren Nacht
und rechne mit euch ab, daß ihr vor Angst zittert.
– HEXENJAGD
1. Mai 2000
Salem Falls,
New Hampshire
Sie mußte sich auf einen großen Bogen Papier stellen und sich die Kleidung abbürsten, damit Sand und Blätter aus dem Wald darauffielen. Gillian blickte auf das blütenweiße Papier und sah gebannt zu, wie es immer mehr Sprenkel bekam.
Gott sei Dank kümmerte sich eine Ärztin um sie, kein Mann. Sie hatte nach Gillys Alter, Größe und Gewicht gefragt, hatte das Datum ihrer letzten Periode wissen wollen und gesagt, sie müsse einen Abstrich machen. Sie hatte gefragt, ob Gilly schon einmal operiert worden war, ob sie in psychiatrischer Behandlung gewesen war, ob sie Medikamente nahm, ob sie vorher schon einmal einem Sexualdelikt zum Opfer gefallen war. Dann fragte sie, wo die Penetration erfolgt war, damit sie wisse, wo sie nach Beweismitteln suchen sollte. Gillian hatte sie verständnislos angestarrt. »Vaginal«, erklärte die Ärztin. »Oral. Anal.«
Gillian konnte sich nicht erinnern, ob und was sie geantwortet hatte. Sie hatte das Gefühl, als hätte sich eine Stahlhülle um sie herum gebildet, so daß es ihr unmöglich war, klar und deutlich zu hören oder sich schnell zu bewegen. Sie stellte sich vor, daß die Hülle dicker wurde, bis sie irgendwann auseinanderbrach und nichts als Staub darin war. »Ist mein Vater da?« flüsterte sie.
»Er muß gleich kommen. In Ordnung?« Die Ärztin lächelte freundlich und legte die Akte hin, in die sie geschrieben hatte. Gilly sah die Worte, die ganz oben standen: Patientin meldet eine Vergewaltigung. Es lief ihr kalt über den Rücken.
Gillian knöpfte sich die Bluse auf. »Meine Socken«, flüsterte sie flehentlich. »Darf ich die anbehalten?«
Die Ärztin nickte. Sie warf einen Blick auf die Bluse mit dem Blutfleck und schob sie dann vorsichtig in eine Papiertüte, auf der ein Etikett des gerichtsmedizinischen Labors war. Gillians Unterwäsche – ein gelbes Set mit der Aufschrift F REITAG , obwohl es nicht Freitag war – kam in eine andere Tüte. Schließlich faltete sie den Bogen Papier, auf dem Gilly gestanden hatte, zusammen und tat ihn in einen Beweismittelbeutel.
Während Gilly dastand wie ein Pferd auf einer Auktion, ging die Ärztin langsam um sie herum. »Ich suche jetzt nach Kratzern und Blutergüssen«, erklärte sie, bückte sich dann, um einen roten Fleck auf Gillians Oberschenkel in Augenschein zu nehmen. »Woher stammt der?«
»Vom Rasieren«, murmelte Gilly.
»Und das?« fragte die Ärztin und deutete auf einen Bluterguß am Handgelenk.
»Ich weiß nicht.«
Eine Kamera wurde aus einer Schublade genommen; ein Foto wurde gemacht. Gilly dachte an die Schnitte an ihren Fußsohlen, an die Narben, die sie nicht sehen konnten. Dann bat die Ärztin sie, sich auf den Untersuchungstisch zu legen. Gilly schluckte schwer und preßte die Oberschenkel zusammen. »Wollen Sie jetzt…«
»Noch nicht.« Die Ärztin schaltete das Licht im Raum aus, und eine helle lila Glühbirne leuchtete auf. »Das ist eine Woodslampe.« Sie hielt sie wenige Zentimeter von Gillys Haut entfernt und bewegte sie dann über ihren
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