Die Hexenmeister
Wein.
»Du siehst traurig aus«, sagte Mama Rosa, als sie sich zu Testi an den Tisch setzte. Er war der einzige Gast. Bei diesem herrlichen Herbstwetter hielten sich die Menschen lieber draußen auf oder fuhren hinaus auf das Meer.
»Traurig?«
»Ja, Flavio, das sehe ich dir an. Du hast Sorgen, und du weißt nicht, wie du sie loswerden kannst.«
Er wischte Soßentropfen von seinem Kinn. »Wer hat denn keine Sorgen? Hast du nicht auch Kinder?«
»Si.«
»Denkst du auch an sie?«
»Natürlich.«
»Ich auch.«
»Es geht unseren Kindern doch gut, Flavio.«
Er nickte. »Zum Glück. Aber hat sich nicht deine Mutter auch um dich Sorgen gemacht?«
»Da hast du recht.«
»So geht es mir auch. Ich muß immer hoffen, daß es meinen Söhnen gutgeht und daß dies so bleibt. Wenn da nichts dazwischenkommt, kann ich aufatmen.«
»Alles richtig.«
Flavio lächelte. Er schaute über den Teller hinweg. Mama Rosa war keine körpergewaltige Patronin, sondern klein und schmächtig. Sie fiel unter Menschen kaum auf, weil sie so klein war und zudem ein schmales Gesicht hatte. Doch wer in ihre Augen schaute, der sah darin das Temperament wie eine Flamme leuchten.
»Wann kommen dich deine Söhne denn wieder besuchen, Flavio?«
Er lächelte strahlend. »Romano hat seinen Besuch bereits angekündigt. Es wird nicht mehr lange dauern, schätze ich. Vielleicht schon übermorgen.«
»Hat er Sehnsucht? Gefällt ihm der kalte Norden nicht?«
»So wird es wohl sein.«
Mama Rosa nickte. »Noch einen Schluck Wein?«
»Ja bitte.«
Sie stand auf und holte einen kleinen Tonkrug. Den hielt sie unter den Hahn eines Fasses. Der Rote lief in den kühlen Krug und füllte ihn bis zum Rand aus.
Testi stand vor dem Fenster, betrachtete darin sein Gesicht. Er war älter geworden, die Furchen hatten sich tiefer in seine Haut gegraben. Der Ausdruck in seinen Augen gefiel ihm auch nicht mehr. Er sah so müde aus. Das Haar erinnerte in seiner Farbe an schmutzigen Schnee.
Die Zeiten vergingen, das Meer aber blieb. Er konnte es von seinem Platz aus sehen. Wunderbar sah es aus. An manchen Stellen lag es wie glatt gestrichen unter dem Glanz der Herbstsonne. Sie ließ die Oberfläche blau grau aussehen. Nur in der Ferne wogte es höher, ansonsten zeigte es sich sehr friedlich.
Es war ein schöner Tag. Es gab eigentlich keinen Grund zur Beunruhigung, dennoch fühlte sich Testi unwohl. Schon am Morgen war er nervös gewesen. Er spürte, daß etwas in der Luft lag, und auch jetzt war dieses Gefühl nicht vergangen.
Mama Rosa kehrte mit dem Wein zurück an seinen Tisch. Sie schenkte ihm ein und setzte sich.
Er lächelte ihr zu.
»Du bist traurig«, sagte sie.
»Warum?«
»Es ist dein Lächeln, Flavio. Es kommt nicht von innen, es wirkt einfach aufgesetzt.«
»Das täuscht.«
»Nein, Flavio, ich kenne mich aus.« Sie hob ihr Glas an und prostete ihm zu.
Auch Flavio trank und dachte daran, daß Rosa ja recht hatte. Nur wollte er es nicht zugeben. Auf keinen Fall durfte sie etwas erfahren. Keinem Fremden hatte er je davon berichtet, nur seine Familie war eingeweiht worden.
»Wenn du es mir nicht sagen willst, dann laß es.« Testi hob die Schultern. »Ich wüßte nicht, was ich dir noch sagen sollte.«
»Schon gut.«
Das lief auf einen Streit hinaus. Rosa war neugierig. Schon oft hatte sie sich mit Flavio gestritten. Es machte ihm auch Spaß, jedoch nicht an diesem Tag.
»Ich werde wohl gehen«, sagte er.
»Und der Wein? Du hast ihn nicht ausgetrunken.«
»Stell ihn kalt.«
»Hör auf, Flavio, hör auf!« Wütend winkte sie ab. Sie würde nicht erfahren, was ihn wirklich bedrückte.
Flavio zahlte. Er stand auf, nahm seinen Hut vom Haken und ging mit einem knappen Gruß auf den Lippen davon. Die Frau schaute ihm nachdenklich hinterher.
Sehr langsam ging Flavio die lange Treppe hoch, die vom Hafen her in das Wohngebiet des Küstendorfes führte. Dort oben standen die Häuser dicht zusammen. Die Plätze waren dem Fels abgetrotzt worden. Es gab nur eine Straße, die mit einem Auto befahren werden konnte. Ansonsten mußten sich die Bewohner zu Fuß durch die schmalen Gassen bewegen. Nur Jugendliche versuchten es ab und zu mit ihren kleinen Motorrädern. Da rasten sie sogar die Stufen der Treppe hinab.
Das kleine Küstendorf wirkte um die Mittagszeit wie ausgestorben. Nur hier und da ließ sich ein Mensch blicken. Vor einem kleinen Tabakladen saß die Eigentümerin und war eingeschlafen. Die Herbstsonne schien ihr ins Gesicht.
Testi lächelte,
Weitere Kostenlose Bücher