Die Hexenmeister
Tablett.
Sie enthielt Nudeln, auf denen die Butterflocken allmählich schmolzen.
Eine Gabel und ein Löffel lagen neben dem Teller. Die Äbtissin nahm beides in die Hände, aß aber noch nicht, sondern fragte:
»Woher weißt du das?«
»Ich habe es gespürt, Ehrwürdige Mutter.«
»Dein zweites Gesicht?«
»Si…«
»Und weiter?«
»Ich habe Unheil gesehen. Es… es war eine dunkle Wolke, die immer näher an unser Kloster herankam und sich über ihm zusammenballte, als wollte sie uns erdrücken.«
Die Äbtissin atmete hörbar. So etwas hatte sie sich gedacht. Schon vor Tagen hatte die junge Nonne Solara darauf hingewiesen, daß sich etwas Schreckliches anbahnte.
Die alte Frau hatte sehr genau zugehört und auch an eine Parallele gedacht. Vorjahren war es ähnlich gewesen. Viele im Kloster konnten sich noch an die rätselhaften Vorgänge um Maria erinnern. Sie war etwas Besonderes gewesen und hatte kurz vor dem Sterben behauptet, daß sie es schaffen würde, den Tod zu besiegen.
Sie hatte es geschafft, denn sie war einigen Schwestern schon erschienen. Aber sie hatte auch darunter zu leiden, denn man war ihr auf der Spur. Der Tod wollte nicht so einfach hinnehmen, von einem Menschen überlistet worden zu sein, wobei man sich bei Maria hatte fragen müssen, ob sie überhaupt ein normaler Mensch aus Fleisch und Blut gewesen war, oder ob Gott durch sie ein Zeichen hatte setzen wollen.
Lucia, die Äbtissin, schaute Solara intensiv an, daß diese rot im Gesicht wurde. »Habe ich etwas an mir, Ehrwürdige Mutter?« fragte sie leise und vorsichtig.
»Nein, meine Liebe, hast du nicht. Aber du bist ihr so gleich. Auch das Haar ist blond. Deine Haut ist so rein, du bist so übermäßig schön. Zudem hast du so etwas Ähnliches wie das Zweite Gesicht, und ich frage mich, ob sich das Schicksal wiederholen kann.«
Solara schüttelte den Kopf. Sie hatte nichts begriffen. »Wie meinen Sie das, Ehrwürdige Mutter?«
»Darüber werde ich später mit dir reden. Ich gebe dir nur einen guten Rat. Halte stets die Augen und Ohren offen, was immer auch geschieht. Schau genau hin.«
»Das mache ich schon.«
»Sieh in Zukunft noch genauer hin. Und tu mir einen Gefallen.«
»Jeden, Ehrwürdige Mutter.«
»Berichte mir von deinen Träumen.«
Solara wurde rot.
»Du hast schon geträumt?«
Sie nickte.
»War es so schlimm?«
Die junge Nonne hob die Schultern. Dann drückte sie die Hände zusammen, knetete die Finger, spreizte sie und wußte nicht, was sie antworten sollte.
Die Äbtissin schob das Tablett zur Seite. Sie wollte die kalt gewordenen Nudeln nicht mehr essen. Sie half Solara, indem sie sagte: »Es wäre keine Schande, wenn du von jungen Männern geträumt hättest. Immerhin fordert die Natur in deinem Alter ihr Recht. Darauf möchte ich auch nicht hinaus. Mir geht es um andere Träume, um ungewöhnliche Erscheinungen, die du gehabt haben könntest. Verstehen wir uns?«
»Nein… nicht direkt…«
»Gut, dann will ich deutlicher werden. Ist dir im Traum jemand erschienen, Solara?«
Die Augen der jungen Nonne weiteten sich. »Ja«, flüsterte sie nach einer Weile. »Es stimmt, ich hatte diese Erscheinungen in der letzten Zeit. Es waren Wesen…«
Als sie den Satz abrupt beendete, schüttelte Lucia den Kopf. »Du mußt weitersprechen, meine Liebe.«
»Ich… ich schäme mich.«
»Nicht vor mir. Wir sind allein.«
Solara saugte den Atem ein. Dann senkte sie den Kopf. »Es waren geisterhafte Wesen, erfüllt von Licht und…«
»Engel?«
Solara preßte ihre rechte Hand gegen die Brust. »Wie gut, daß Sie es ausgesprochen haben, Ehrwürdige Mutter. Ich habe gedacht, mich lächerlich zu machen, wenn ich so etwas sage.«
»Nein, bestimmt nicht. Ich habe förmlich darauf gewartet. Hatten die Engel eine Botschaft für dich?«
Sie hob die Schultern. »Das kann durchaus sein. Wenn ja, dann habe ich sie nicht verstanden. Ist das schlimm?«
»Überhaupt nicht. Wir werden aber darüber reden müssen, Solara. Sehr bald schon.«
»Ja, wenn Sie wollen, Ehrwürdige Mutter.«
»Dann kannst du jetzt gehen.«
Die junge Nonne verbeugte sich knicksend und eilte davon. Sie ließ eine sehr nachdenkliche Äbtissin zurück, die das Gefühl hatte, als würde sich bald alles wiederholen. Noch war Solara nicht soweit. Sie war noch zu jung, es würde dauern, bis sie den Durchblick endlich gefunden hatte, dann aber mußte sie darauf vorbereitet sein.
Es war nicht so, daß man die Äbtissin in die gesamten Geheimnisse eingeweiht
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